Besprechung von BVerfG, Kammerbeschluss vom 22.5.2014 – 1 BvR 2882/13
Einführung
In seiner jüngeren Rechtsprechung hat das BVerfG deutlich gemacht, dass Familiengerichte und Jugendämter aus seiner Sicht Kinder häufig zu schnell, ohne ausreichende Ermittlungen oder eingehende Begründung von ihren Eltern trennen bzw. nicht genügend Anstrengungen unternehmen, fremd untergebrachte Kinder wieder in den elterlichen Haushalt zurückzuführen. Dies ist auch Gegenstand von zwei Kammerentscheidungen vom 22.5.2014, von denen die Entscheidung 1 BvR 2882/13 hier besprochen werden soll. Aus den vielen in dieser Entscheidung behandelten Problemkreisen können nachfolgend nur einige näher betrachtet werden, die einerseits der weiteren fachlichen Diskussion bedürfen, andererseits schon jetzt Auswirkungen auf die Rechtspraxis haben.
1. Das BVerfG als Rechtsbeschwerdeinstanz in Kindesschutzverfahren
Bei der Entscheidung handelt es sich um eine von sieben Kammerbeschlüssen des BVerfG, mit denen es zwischen März und August 2014 Entscheidungen von sieben verschiedenen Oberlandesgerichten (Berliner Kammergericht, OLG Zweibrücken, OLG Düsseldorf, OLG Celle, OLG Frankfurt, OLG München und OLG Köln) aufgehoben hat, die jeweils den betroffenen Eltern nach §§ 1666, 1666a BGB die elterliche Sorge teilweise entzogen hatten, damit deren Kinder fremduntergebracht werden konnten.
Diese Fülle an – stattgebenden – Entscheidungen erstaunt: Zuvor gab es soweit ersichtlich jeweils nur eine oder zwei die §§ 1666, 1666a BGB betreffenden Kammerentscheidungen im ganzen Kalenderjahr. Grund dürfte eine neuerdings größere Prüfungsdichte des BVerfG sein. Das BVerfG prüft zwar seit jeher Entscheidungen, die eine Trennung des Kindes von seinen Eltern zur Folge haben (Art. 6 Abs. 2 i.V.m. Abs. 3 GG), besonders streng. Bisher hatte es jedoch den Prüfungsmaßstab in ständiger Rechtsprechung seit 1982 dahingehend formuliert, dass "neben der Frage, ob die angefochtene Entscheidung Fehler erkennen lässt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung des Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs beruhen, auch einzelne Auslegungsfehler nicht außer Betracht bleiben" können. Nunmehr hat es die Prüfung – ohne weitere Begründung – auf "deutliche Fehler bei der Feststellung und Würdigung des Sachverhalts" erweitert. Es prüft dabei, ob die Instanzgerichte in nachvollziehbarer Weise angenommen haben, dass eine Kindeswohlgefährdung vorliegt, und ob die Gefährdung nicht durch weniger eingreifende Maßnahmen als durch die Trennung des Kindes von seinen Eltern hätte abgewendet werden können. Das bedeutet letztlich eine vollständige Überprüfung der richtigen Anwendung der §§ 1666, 1666a BGB in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht.
Das BVerfG ist damit in Kindesschutzverfahren zur echten Superrechtsbeschwerdeinstanz geworden. Wobei "Super-" insoweit unzutreffend ist, als der Rechtsweg zum BGH als Rechtsbeschwerdeinstanz bei allen sieben Kammerentscheidungen mangels Zulassung der Rechtsbeschwerde gemäß § 70 Abs. 2 FamFG gar nicht eröffnet war, weil die Sachen weder grundsätzliche Bedeutung hatten, noch eine Entscheidung des BGH aus Gründen der Rechtsfortbildung oder der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich war. Faktisch übernimmt das BVerfG damit in Verfahren nach § 1666 BGB die Einzelfallkontrolle als Rechtsbeschwerdeinstanz qua Kammerentscheidung durch drei Richter, während der XII. Senat des BGH mit seinen Entscheidungen durch jeweils fünf Richter für die Rechtsfortbildung zuständig ist.
Vorsorglich hat das BVerfG übrigens in einer weiteren aktuellen Kammerentscheidung noch einmal darauf hingewiesen, dass eine derartige Kontrolle in Sorgeentscheidungen nach § 1671 BGB nicht erfolgt, sondern das BVerfG in diesen Verfahren lediglich prüft, ob die Fachgerichte "eine auf das Wohl des Kindes ausgerichtete Entscheidung getroffen und dabei die Tragweite der Grundrechte aller Beteiligten nicht grundlegend verkannt haben". Die Tendenz zur Beschwerdeinstanz hat das BVerfG schließlich in einer Senatsentscheidung vom 24.6.2014 nochmals verstärkt. Es hat darin zunächst die einfachgesetzliche Regelung in § 59 FamFG gebilligt, wonach den Großeltern und anderen engen Verwandten im Falle eines Sorgeentzugs keine Beschwerdebefugnis zusteht, um den Kreis der Beschwerdeberechtigten in solchen Verfahren überschaubar zu halten. Es hat zugleich aber eine Beschwerdebefugnis der Großeltern und anderer enger Verwandter nach § 90 Abs. 1 BVerfGG i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG für das verfassungsgerichtliche Verfahren angenommen und sodann gewissermaßen als "außerordentliches OLG" die amtsgerichtliche Entscheidung in Bezug auf die Berücksichtigung der Großeltern als Pfleger überprüft (allerdings ebenfalls anhand des allgemeinen, nicht des erhöhten Prüfungsmaßstabs). Durch diese Entscheidung hat der Erste Senat im Übrigen obiter dictum auch die mit den genannten Kammerentscheidungen erhöhte Prüfungsdichte gebilligt.