GG Art. 6 Abs. 2 S. 1, Abs. 3; BGB § 1666 Abs. 1, Abs. 3 Nr. 6 § 1666a Abs. 1 S. 1; FamFG § 49 Abs. 1
Leitsatz
1. Die vorläufige Entziehung der elterlichen Sorge erfordert umso weitreichendere Sachverhaltsermittlungen, je geringer der möglicherweise eintretende Schaden des Kindes wiegt, in je größerer zeitlicher Ferne der zu erwartende Schadenseintritt liegt und je weniger wahrscheinlich dieser ist. (Rn 19)
2. Die bloße Existenz "besserer" Alternativen vermag den Entzug der elterlichen Sorge nicht zu rechtfertigen. Dieser setzt voraus, dass im Falle des Verbleibs des Sorgerechts beim Betroffenen eine nachhaltige Kindeswohlgefährdung zu befürchten wäre. (Rn 22)
3. Trägt der erziehungsberechtigte Elternteil eine (vorübergehende) Fremdunterbringung des Kindes mit und unterstützt diese, ist ein familiengerichtliches Einschreiten grundsätzlich nicht erforderlich und damit unverhältnismäßig (Rn 29)
(Leitsätze der Red.)
BVerfG, stattgebender Kammerbeschl. v. 13.7.2017 – 1 BvR 1202/17 (OLG Oldenburg, AG Oldenburg)
1 Gründe:
[1] I. Der Beschwerdeführer wendet sich, auch im Wege des Eilantrags, gegen den im Wege der einstweiligen Anordnung erfolgten teilweisen Entzug der elterlichen Sorge für seine beiden im Jahr 2016 geborenen Zwillingstöchter.
[2] 1. a) Der Beschwerdeführer, ein belgischer Staatsangehöriger, ist Vater zweier Kinder. Die Eltern leben voneinander getrennt. Der Beschwerdeführer wohnt und arbeitet in Belgien, die Mutter lebt in Deutschland. Die Mutter ist gebürtige Ivorerin, betreibt in der Bundesrepublik ein Asylverfahren und verfügt über eine entsprechende Aufenthaltsgestattung. Nachdem die Eltern im Sommer des Jahres 2015 eine kurze Beziehung eingegangen waren, hielt sich der Beschwerdeführer, der ursprünglich aus Guinea stammt, zunächst von Herbst 2015 bis in das Frühjahr des Jahres 2016 in Afrika auf. Von der Schwangerschaft und der Geburt der Kinder wusste der Beschwerdeführer zunächst nichts. Nach der Geburt im März 2016 kümmerte sich die Mutter allein um die Kinder. Im August/September 2016 erfuhr der Beschwerdeführer erstmals von seiner Vaterschaft.
[3] b) Am 13.12.2016 nahm das Jugendamt die Kinder, die sich zu diesem Zeitpunkt bei der Mutter aufhielten, aufgrund erheblicher Kindeswohlgefährdungen in Obhut. Mit nicht angegriffenem Beschl. v. 21.12.2016 entzog das Amtsgericht der Mutter im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig das Aufenthaltsbestimmungsrecht, das Recht zur Gesundheitsfürsorge, das Recht zur Beantragung von Jugendhilfemaßnahmen sowie das Recht der Vertretung bei Behörden und ordnete insoweit Ergänzungspflegschaft des Jugendamts an. Der Beschwerde führer war zu diesem Zeitpunkt weder dem Jugendamt noch dem Familiengericht bekannt.
[4] c) Der Beschwerdeführer erkannte seine Vaterschaft am 19.12.2016 mit Zustimmung der Mutter an. Die Eltern gaben zugleich eine gemeinsame Sorgerechtserklärung ab. Mit nicht angegriffenem Beschl. v. 6.1.2017 bestellte das Amtsgericht im Verfahren der einstweiligen Anordnung eine Verfahrensbeiständin, die die Eltern sogleich kontaktierte und sich in ihrer Stellungnahme vom 23.1.2017 gegen eine Rückkehr der Kinder zu der Mutter und für einen begleiteten Umgang der Kinder sowohl mit der Mutter als auch mit dem Beschwerdeführer aussprach. Unter dem 24.1.2017 gab das Jugendamt ebenfalls eine Stellungnahme ab, in der es die Erziehungsgeeignetheit der Mutter und die Vaterschaft des Beschwerdeführers infrage stellte. In der mündlichen Verhandlung vor dem Amtsgericht am 17.2.2017 wurden die Vertreterin des Jugendamts sowie die Eltern angehört. Das Jugendamt sprach sich für eine dauerhafte Fremdunterbringung aus und beantragte, den Eltern die gesamte elterliche Sorge zu entziehen. Die Erziehungsfähigkeit der Mutter sei erheblich eingeschränkt, was u.a. auf eine psychische Erkrankung zurückzuführen sei. Im Anhörungstermin erklärte der Beschwerdeführer, dass es sein Wunsch sei, dass die Kinder zu ihrer Mutter zurückkehrten. Es sei geplant, dass er in der Zukunft mit den Kindern und der Mutter, mit der er sich in einer Beziehung befinde, zusammenlebe. Beide Elternteile wollten, dass es den Kindern gut gehe.
[5] d) Mit angegriffenem Beschl. v. 20.2.2017 hielt das Amtsgericht den teilweisen Sorgerechtsentzug in Bezug auf die Mutter aufrecht und entzog nunmehr auch dem Beschwerdeführer das Sorgerecht im selben Umfang wie der Mutter. Im Falle einer weiteren Versorgung durch die Mutter sei das Kindeswohl der beiden Kinder erheblich gefährdet. Auch durch andere Hilfeleistungen durch das Jugendamt könne diese Gefährdung nicht beseitigt werden. Die Mutter habe sich geweigert, einen entsprechenden Antrag zu Jugendhilfemaßnahmen zu unterschreiben. Sie sei auch nicht in der Lage, die Kinder angemessen zu versorgen. Ihre Nachlässigkeiten hätten letztlich in dem von ihr als Unfall geschilderten Vorfall gegipfelt, bei dem eines der Kinder massive Verbrennungsverletzungen erlitten habe. Die Hilfen, die bisher eingerichtet worden seien, hätten nicht dazu geführt, dass sie ihr Verhalten reflektiert und ...