Gabriele Ey

Der Souverän hat am 24.9.2017 die 709 Mitglieder des 19. Deutschen Bundestages gewählt. Seit der eiligen Festlegung der SPD noch am Wahlabend, keine weitere Regierungsverantwortung zu übernehmen, führen nun Spitzenvertreter der Schwesterparteien CDU und CSU, der wieder in den Bundestag eingezogenen FDP und von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gespräche mit dem Ziel, einen Koalitionsvertrag zustande zu bringen. Er soll als die maßgebliche Grundlage einer regierungsfähigen Mehrheit im Bundestag mit vierjähriger Haltbarkeit neue Normsetzung bewirken. Konkrete Verhandlungsergebnisse werden noch in diesem Jahr erwartet.

Dabei spielt auch die Familienpolitik eine wichtige Rolle. In den Wahlprogrammen haben die politischen Parteien ihre Vorschläge dargestellt. Es geht um steuerliche Entlastungen und staatliche Leistungen, aber auch um Rahmenbedingungen für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Arbeitszeitmodelle für die Eltern und Betreuungsangebote für die Kinder. Die CDU/CSU hat sich nicht auf ein bestimmtes Familienmodell festgelegt, sondern für eine "wertefundierte Haltung" geworben und sich für die Förderung von Ehe und Familie ausgesprochen. Die Grünen wollen sich für eine neue Rechtsform der nichtehelichen Lebensgemeinschaft einsetzen und auch den Patchwork-Familien einen rechtlichen Rahmen geben. Die FDP, die die zum Ende der letzten Legislaturperiode mit einem Paukenschlag eingeführte "Ehe für alle" unterstützt hat, lehnt einseitige Familienmodelle ab. Sie tritt für die Einführung einer rechtlich abgesicherten, flexibleren "Verantwortungsgemeinschaft" neben der klassischen Ehe ein, fordert das Wechselmodell als künftigen Regelfall und tritt für die Erlaubnis von Eizellspenden und nicht-kommerzieller Leihmutterschaft auch in Deutschland ein. Allein dies zeigt, wie unterschiedlich die Vorstellungen der Parteien sind, deren Vertreter mit dem Ziel des Abschlusses eines Koalitionsvertrages nun an einem Tisch sitzen.

Es ist wichtig, dass die jetzt neu beginnende programmatische Diskussion frei von Misstrauen geführt wird. Es geht darum, Konsens zu finden über die aufgeworfenen familienrechtlichen ordnungs- und strukturpolitischen Fragen: Welche steuerlichen Entlastungen und staatlichen Leistungen sind zur Förderung der Familien wichtig? Welche Maßnahmen soll der künftige Gesetzgeber vorsehen, um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu erleichtern? Sind neue Rechtsregeln für die nichteheliche Lebensgemeinschaft, ein Wechselmodell als Regelfall, die Erlaubnis von Eizellspenden und nicht-kommerzieller Leihmutterschaft notwendig?

Der große Soziologe und Gesellschaftstheoretiker Niklas Luhmann hat den Begriff der Komplexitätsreduktion konstruktiv erhellend eingeführt. Vertrauen wird erreicht, wenn man in der Lage ist, durch persönliches Vertrauen oder Vertrauen in die Funktionsweise gesellschaftlicher Systeme sich auf höhere Risiken einzulassen. Luhmann beschreibt und erörtert solche vielschichtigen Sachverhalte unter dem zusammenfassenden Gesichtspunkt riskanter Vorleistung.

Das meint hier zunächst die Akteure im Kernbereich und Umfeld der Koalitionsverhandlungsführer. Sie wollen und müssen in diesen Wochen der inhaltlichen und eben auch der persönlichen Findungsphase neu erfahren, ob sie jetzt einander vertrauen können. Jeder und jede von ihnen stellt sich die Frage und muss sie für sich beantworten: Kann ich mich auf das gegebene Wort, kann ich mich auf die erklärte Aussage verlassen? Politische Langzeitwettbewerber, parteipolitische Kontrahenten, Gegner und möglicherweise persönliche Feinde müssen sich darüber klar werden: Passen wir im Herbst anno 2017 zusammen? Und diese Frage muss sich auch jede mögliche Koalitionspartei im Ganzen stellen. Und das meint weiter: Können und wollen wir diesen Koalitionsvertrag mit seinen zahlreichen konkreten Detailabreden vereinbaren, als Richtschnur auf Zeit verbindlich festlegen, um auf vier Jahre in einem Boot zu sitzen?

In diesem Sinne sei im Luther-Jahr 2017 ein volksnaher Ratschlag des großen Reformators hoffnungsfroh in Erinnerung gerufen: "Ein jeder lerne seine Lektion, so wird es wohl im Hause stohn."

Autor: Gabriele Ey

Gabriele Ey, Vorsitzende Richterin am Oberlandesgericht Köln

FF 11/2017, S. 425

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge