Zu klären wäre zunächst die Zielrichtung des Vorhabens: Wird bezweckt, die gegenwärtige Verfassungslage zum Schutz und zu den Rechten von Kindern abzubilden (deklaratorische Verfassungsänderung) oder ist eine Änderung nicht nur des Grundgesetztextes, sondern auch des verfassungsrechtlichen Schutzumfangs geplant (substantielle Verfassungsänderung)? Für den Fall, dass eine inhaltliche Erweiterung der bisherigen Schutzdimension gewollt ist, stellt sich die Frage, mit welchem Instrumentarium dies geschehen soll: Ist an eine Staatszielbestimmung gedacht oder daran, ein neues bzw. neue subjektive Grundrechte für Kinder zu schaffen?
Im Koalitionsvertrag ist explizit von einem "Kindergrundrecht" die Rede. Ob eine Staatszielbestimmung als Instrumentarium infrage kommt, erscheint damit fragwürdig. In Betracht käme wohl nur eine Kombinationslösung. Mit der Staatszielbestimmung würden dem Staat objektiv-rechtliche Verpflichtungen entstehen, zum Beispiel die Entwicklung und Beteiligung von Kindern zu fördern. Ein einklagbarer Anspruch von Kindern würde damit aber nicht geschaffen. Verletzt wäre die Staatszielbestimmung erst, sollten die Staatsorgane gänzlich untätig bleiben oder die ergriffenen Maßnahmen offenkundig ungeeignet sein, die für Kinder erstrebten Staatsziele zu erreichen.
Verfassungssystematisch wäre zu bedenken, dass Staatszielbestimmungen grundsätzlich Bereiche betreffen, in denen der Verfassungsgesetzgeber sich gerade nicht so weit binden wollte, dass er Grundrechte gewährleistet, auf die sich der Einzelne berufen und die er ggf. auch gerichtlich durchsetzen kann. Kinder hingegen genießen nach dem Grundgesetz, wie bereits gesagt (siehe oben unter 4.), umfassenden Grundrechtsschutz. Würde das Koalitionsvorhaben "Kindergrundrechte" in Form einer Staatszielbestimmung verwirklicht, würde sich also die Frage stellen, ob und welche Folgen dies für die grundrechtlichen Abwehr- und Schutzansprüche hätte, die Kindern nach dem Grundgesetz zustehen. Im Ergebnis, so wird befürchtet, könnte die Staatszielbestimmung den bestehenden Grundrechtsschutz eher schwächen als stärken.
Abgrenzungsprobleme ergeben sich jedoch auch für den Fall, dass der Verfassungsgesetzgeber entscheidet, die bisherigen Grundrechte für Kinder durch weitere subjektiv-öffentliche Rechte zu ergänzen. Auch hier stellt sich die Frage, was aus dem Grundrechtsschutz wird, der Kindern nach bisheriger Verfassungsrechtslage zusteht. Wie also verhalten sich allgemeine (ungeschriebene) und speziell aufzunehmende Kindergrundrechte zueinander?
Klärungsbedarf würde außerdem zu der Frage bestehen, was neue Kindergrundrechte für die Grundrechte der Eltern bedeuten. Dass das Elternrecht zur Pflege und Erziehung der Kinder als fremdnützig oder treuhänderisch verstanden wird (siehe dazu oben unter 10.), ändert daran nichts, da die elterliche Erziehungsautonomie staatlichen Erziehungsbestrebungen grundsätzlich vorgeht und das Elternrecht auch Garant einer privaten Lebenssphäre ist, die für die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes benötigt wird. Beides wäre bei der Ausgestaltung neuer Kindergrundrechte zu bedenken.
Kurz und knapp: Nach der Koalitionsvereinbarung, Kinderrechte im Grundgesetz zu verankern, käme sowohl eine deklaratorische als auch eine substantielle Verfassungsänderung in Betracht. Bei der Weichenstellung ist zu bedenken, dass das Grundgesetz bereits ein austariertes Schutzsystem bietet, in dem Kinder umfassenden Grundrechtsschutz genießen und das Elternrecht als Garant privater Lebenssphäre geschützt wird.