Die Entscheidung des BGH vom 22.5.2019 – XII ZB 613/16 betrifft nun einen Fall mit einer weiteren Besonderheit. Der Kindesvater hatte sich für seine beiden aus einer früheren Ehe hervorgegangenen Kinder durch Jugendamtsurkunde zwar zu einer monatlichen Unterhaltszahlung verpflichtet, die aber mit 44 EUR sehr deutlich unterhalb des seinerzeit rechnerisch geschuldeten Unterhaltsbetrages lag.
Abstrakt stellt sich auch hier die Frage, ob für die Bestimmung der Leistungsfähigkeit des Unterhaltspflichtigen der volle Unterhaltsbedarf eines anderen Berechtigten auch insoweit heranzuziehen ist, als eine Zahlungspflicht für die Vergangenheit ausscheidet, weil der Unterhaltspflichtige von diesem weiteren gleichrangig Berechtigten nicht in Anspruch genommen worden ist und auch nicht mehr in Anspruch genommen werden kann.
Beispielsfall:
Bisherige Unterhaltsberechnung allein für K1 |
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Einkommen Vater |
1.400,00 EUR |
Tatsächlich gezahlter Unterhalt für K 1 |
44,00 EUR |
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Aktuelle Unterhaltsberechnung für K1 und K 2 |
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Einkommen Vater |
1.400,00 EUR |
Selbstbehalt des Vaters |
1.080,00 EUR |
Verteilungsmasse im Mangelfall |
320,00 EUR |
Unterhaltsbetrag für K 1 und K 2 jeweils |
160,00 EUR |
Im Beispielfall müsste der Vater für K 1 aufgrund der aktuellen Mangelfallberechnung 160 EUR zahlen; der vorhandene Titel verpflichtet ihn aber nur zur Zahlung von 44 EUR.
Zu klären ist also, wem die "gesparten" 116 EUR zustehen sollen.
Der BGH stellt mit den oben bereits wiedergegebenen Formulierungen klar, dass nicht der Vater den Vorteil nutzen kann, sondern das Kind K 2 bis zur Höhe seines Mindestbedarfs auf die zusätzlichen Einkünfte des Vaters zurückzugreifen kann.
In unserem Berechnungsbespiel bedeutet das:
Einkommen Vater |
1.400,00 EUR |
Titulierter Unterhalt für K 1 |
44,00 EUR |
Tabellenunterhalt für K 2 (Mindestbedarf) |
252,00 EUR |
Verbleiben dem Vater |
1.104,00 EUR |
Die Rechenbeispiele im oberen Teil haben gezeigt, dass der Vater ohne diese besondere Gestaltung mit K 1 beiden Kindern jeweils 160 EUR zahlen müsste, also insgesamt 320 EUR an Unterhaltsleistungen aufbringen müsste und ihm nur der Selbstbehalt von 1.080 EUR verbliebe. Jetzt muss er nur insgesamt 296 EUR Kindesunterhalt leisten; er "spart" also letztlich 24 EUR.
Dieser Lösungsansatz gilt sowohl für den Fall,
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dass eine Unterhaltspflicht für die Vergangenheit nach § 1613 Abs. 1 BGB ausscheidet, weil der Unterhaltspflichtige von weiteren minderjährigen Kindern nicht in Anspruch genommen wird, |
als auch für den Fall,
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dass allenfalls der tatsächlich gezahlte (niedrigere) Unterhalt tituliert ist und auch die weiteren Voraussetzungen für eine rückwirkende Inanspruchnahme nach § 1613 Abs. 1 BGB nicht erfüllt sind. |
Dann ist im Rahmen der Leistungsfähigkeit nur der an diese Kinder tatsächlich gezahlte oder der für sie titulierte Unterhalt zu berücksichtigen, weil nur dieser nicht für Unterhaltsansprüche der anderen Kinder zur Verfügung steht.
Dem liegt die zutreffende Überlegung zugrunde, dass Dritte – im vom BGH entschiedenen Fall die beiden älteren Kinder bzw. deren gesetzlicher Vertreter – nicht zugunsten des unterhaltspflichtigen Elternteils und zulasten des jüngeren Kindes die finanziellen Verhältnisse abweichend von den sonst geltenden Regelungen manipulieren können.
Dabei würde in unserem Beispielsfall die bloße Beseitigung der Manipulation zwischen dem Unterhaltspflichtigen und K 1 allerdings dazu führen, dass die Unterhaltsansprüche von K 1 ebenfalls in die Berechnung einzustellen sind wie bei gleichzeitiger Entscheidung über alle Unterhaltsansprüche. De facto wäre also eine Mangelfallberechnung vorzunehmen mit dem Ergebnis eines anteilig verkürzten Unterhaltsanspruchs von K 1 und K 2 in Höhe von jeweils 160 EUR.
Die Lösung des BGH gibt K 2 allerdings mehr, denn er erhält jetzt für die Vergangenheit vollständig seinen Mindestunterhalt. Der Verzicht von K 1 wirkt sich also voll zugunsten von K 2 aus, denn der frei gewordene Betrag wird ganz diesem anderen unterhaltsberechtigten Kind K 2 bis zur Höhe seines notwendigen Selbstbehaltes zur Verfügung gestellt. Dieser Lösungsansatz deckt sich auch mit dem allgemeinen Grundsatz, dass bei unterhaltsrechtlich relevanten Belastungen nur auf die tatsächlich erfolgen Zahlungen abzustellen ist.
Der BGH betrachtet die vonseiten des Kindes K 1 zugunsten des Vaters erfolgte Manipulation zwar wie eine freiwillige Leistung Dritter an den unterhaltspflichtigen Vater mit der Zweckrichtung, allein diesem weitere Einkünfte zu belassen, stellt jedoch klar, dass diese Gestaltung am Anspruch auf Mindestunterhalt weiterer minderjähriger Kinder seine Grenze findet. Im Ergebnis wird also das Kind K 1 an den von ihm in der Vergangenheit gebilligten und tatsächlich erfolgten geringeren Zahlungen festgehalten. Das Kind K 2 kann seinen vollen Mindestunterhalt beanspruchen. Der gegenüber K 1 "eingesparte" Unterhalt kommt in diesem Umfang voll dem Kind K 2 zugute.