GG Artt. 6 Abs. 2 20 Abs. 3 103 Abs. 1;FamFG § 159 Abs. 2 § 178 Abs. 2; BVerfGG § 23 Abs. 1 S. 2 § 92
Leitsatz
1. Das gerichtliche Verfahren muss in seiner Ausgestaltung nicht nur den Elternrechten Rechnung tragen; vielmehr steht auch das Verfahrensrecht unter dem Primat des Kindeswohls, dessen Schutz staatliche Eingriffe in das Elternrecht nach Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG erst legitimiert.
2. Der Verzicht auf die Kindesanhörung verletzt das aus Art. 6 Abs. 2 GG folgende Gebot, eine möglichst zuverlässige Grundlage für eine am Kindeswohl orientierte Entscheidung zu erlangen, im Sorgerechtsverfahren nicht, wenn es – beispielsweise wegen eines eingeschränkten Prüfungsgegenstands und auf der Hand liegender Gründe – für die Entscheidung auf die Neigungen, Bindungen oder den Willen des Kindes nicht ankommt.
3. Dient die Anordnung der Ergänzungspflegschaft der Vermeidung einer wegen der Verweigerungshaltung der Mutter ansonsten erforderlichen zwangsweisen Vorführung des Kindes zur Abgabe der Speichelprobe im Abstammungsverfahren, kann sich die Mutter nicht auf Geschehnisse bei einer früheren Vorführung berufen.
(Leitsätze der Redaktion)
BVerfG, Nichtannahmebeschl. der 1. Kammer des Ersten Senats v. 20.8.2020 – 1 BvR 886/20 (OLG Hamm, AG Iserlohn)
Aus den Gründen
Gründe: I. [1] Die Beschwerdeführerin wendet sich mit ihrer Verfassungsbeschwerde gegen gerichtliche Entscheidungen, durch die ihr das Recht, für ihre fünfjährige Tochter über die Einwilligung zur Entnahme einer Speichelprobe und die Sicherung der Durchführung der Probenentnahme zu entscheiden, entzogen und insoweit Ergänzungspflegschaft angeordnet wurde. Das Familiengericht und das Oberlandesgericht hatten jeweils unter anderem die Verfahrensbeiständin der Tochter und das Jugendamt persönlich angehört. Die persönliche Anhörung der Beschwerdeführerin und ihrer Tochter erfolgte in beiden Instanzen nicht, weil diese zu sämtlichen festgesetzten Anhörungsterminen mit der Angabe krankheitsbedingter Verhinderung nicht erschienen waren.
[2] Mit ihrer Verfassungsbeschwerde macht die Beschwerdeführerin unter anderem die Verletzung ihres Elternrechts aus Art. 6 Abs. 2 GG sowie ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) geltend. Zudem seien die Fachgerichte unter Verstoß gegen ihre Bindung an Recht und Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG) ihrer Aufklärungspflicht nicht nachgekommen, weil sie das Kind entgegen § 159 Abs. 2 FamFG nicht persönlich angehört haben.
II. [3] Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen. Annahmegründe (§ 93a Abs. 2 BVerfGG) liegen nicht vor, weil sie insgesamt unzulässig ist. Ihre Begründung zeigt hinsichtlich keiner der angegriffenen Entscheidungen die Möglichkeit einer Verletzung der Beschwerdeführerin in den von ihr als beeinträchtigt geltend gemachten Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten auf.
[4] 1. Soweit die Verfassungsbeschwerde sich gegen die Beschlüsse vom 11.9.2019 und vom 3.2.2020 richtet, lässt ihre Begründung die Möglichkeit einer Verletzung des Elternrechts (Art. 6 Abs. 2 GG) der Beschwerdeführerin nicht erkennen. Das gilt auch, soweit sie sich gegen die Gestaltung des Verfahrens durch die Fachgerichte wendet. Obwohl die Beschwerdeführerin den behaupteten Verstoß gegen das fachrechtliche Gebot zur Kindesanhörung aus § 159 Abs. 2 FamFG verfassungsrechtlich ausdrücklich lediglich als Verletzung von Art. 20 Abs. 3 GG rügt, lässt sich dem Gesamtzusammenhang der Verfassungsbeschwerde noch eine Rüge der Verletzung von Art. 6 Abs. 2 GG und Art. 103 Abs. 1 GG durch die fachgerichtliche Verfahrensgestaltung entnehmen.
[5] a) Das gerichtliche Verfahren in seiner Ausgestaltung muss dem Gebot effektiven Grundrechtsschutzes entsprechen. Das bedeutet nicht nur, dass die Verfahrensgestaltung den Elternrechten Rechnung tragen muss, vielmehr steht auch das Verfahrensrecht unter dem Primat des Kindeswohls, dessen Schutz staatliche Eingriffe in das Elternrecht nach Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG erst legitimiert. Die Gerichte müssen daher ihr Verfahren so gestalten, dass sie möglichst zuverlässig die Grundlage einer am Kindeswohl orientierten Entscheidung erkennen können (vgl. BVerfGE 55, 171 <182>). Die Gestaltung des gerichtlichen Verfahrens einschließlich der Art und des Umfangs der Sachverhaltsermittlung liegen im Zuständigkeitsbereich der Fachgerichte. In Verfahren mit Amtsermittlungsgrundsatz bleibt es dem erkennenden Gericht überlassen, welchen Weg es im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften für geeignet hält, um eine möglichst zuverlässige Grundlage für eine am Kindeswohl orientierte Entscheidung zu erlangen (vgl. BVerfGE 55, 171 <182>; 79, 51 <62>).
[6] Werden diese Anforderungen an die Sachverhaltsaufklärung gewahrt, kann der Verzicht auf fachrechtlich vorgesehene persönliche Anhörungen in Sorgerechtsangelegenheiten mit Verfassungsrecht in Einklang stehen, wenn er mit dem Zweck der betroffenen Anhörungsregelung vereinbar ist (vgl. BVerfG, Beschl. der 1. Kammer des Ersten Senats v. 31.3.2020 – 1 BvR 2392/19, Rn 30).
[7] b) Dass die genannten angegriffen...