GG Art. 6 Abs. 2 S. 1, BGB § 1671
Leitsatz
1. Das Bundesverfassungsgericht kann im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist.
2. Das Wohl des Kindes ist auch bei Aufhebung der gemeinsamen Sorge und Übertragung des Sorgerechts auf nur einen Elternteil oberste Richtschnur.
3. Weicht das Fachgericht von einem gerichtlichen Sachverständigengutachten ab, muss es eine anderweitige verlässliche Grundlage für eine am Kindeswohl ausgerichtete Entscheidung haben und diese in einer eingehend begründeten Entscheidung offenlegen.
4. Die Unabsehbarkeit einer Hauptsacheentscheidung rechtfertigt es nicht, die bislang im Verfahren gewonnenen Erkenntnisse außer Betracht zu lassen. Diese sind vielmehr bei einer vorläufigen Regelung des Sorgerechts umfassend zu würdigen.
5. Hat das Amtsgericht der Mutter das Aufenthaltsbestimmungsrecht übertragen, dieser aber gleichzeitig auferlegt, das Kind vor Aufnahme in ihren Haushalt stationär in einer Einrichtung der Kinder- und Jugendpsychiatrie diagnostizieren und behandeln zu lassen, liegt eine Kindeswohlgefährdung bei Umsetzung dieser Entscheidung fern.
6. Ein Abwarten auf die Hauptsacheentscheidung über die Verfassungsbeschwerde vereitelte den Grundrechtsschutz der Mutter, wenn nach den Feststellungen im Eilverfahren das Kind beim Vater in einer kindeswohlgefährdenden Situation lebt und eine zeitnahe stationäre Unterbringung in Aussicht genommen ist, während bei Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache die Umsetzung dieser Maßnahme verzögert würde, so dass mit einer weiteren Entfremdung des Kindes von der Mutter, der Verfestigung der Ablehnungshaltung des Kindes ihr gegenüber und damit einer Erschwerung der beabsichtigten Therapie zu rechnen ist.
(red. Leitsätze)
BVerfG, Beschl. der 1. Kammer des Ersten Senats v. 6.9.2021 – 1 BvR 1750/21 (OLG Rostock)
Aus den Gründen
Gründe: I. [1] 1. Die Beschwerdeführerin ist die Mutter eines im Oktober 2008 geborenen Kindes. Die nicht miteinander verheirateten Eltern übten die elterliche Sorge zunächst gemeinsam aus. Nach ihrer Trennung im Jahr 2013 strengten sie verschiedene gerichtliche Verfahren über das Sorge- und das Umgangsrecht an.
[2] Im hier gegenständlichen Verfahren beantragten beide Eltern die Übertragung der elterlichen Sorge jeweils auf sich alleine. Die Haltung des Kindes gegenüber den Eltern änderte sich im Laufe der Verfahren. Bei einer Anhörung im März 2016 erklärte es noch, gerne bei der Mutter zu leben und nicht gerne zum Vater zu gehen. Am 28.6.2018 verließ das Kind allerdings den mütterlichen Haushalt, indem es sich an eine Ansprechpartnerin des freien Trägers der Jugendhilfe wandte, die den Vater informierte. Dieser holte das Kind von der Schule ab. Seitdem lebt das Kind ohne Kontakt zur Beschwerdeführerin bei ihm.
[3] Das Amtsgericht holte daraufhin ein Gutachten der Sachverständigen Diplom-Psychologin W. ein. Der Vater verweigerte unter Berufung auf eine Weigerung des Kindes die weitere Mitwirkung an diesem Gutachten, das deswegen vorzeitig abgeschlossen wurde. Die Sachverständige gelangte zu dem Ergebnis, dass die Mutter besser in der Lage sei, das Kind zu betreuen und zu erziehen, weil die Eskalation des Elternkonflikts seit Jahren aus psychologischer Sicht einseitig vom Kindesvater betrieben und das Wohl des Kindes vernachlässigt werde. Sie ging von einer Unbeachtlichkeit des kindlichen Willens aus, weil es sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit um einen durch den Vater und professionelle Berater induzierten Willen handle. Nach der Erstattung des Gutachtens wandte sich die Sachverständige im Februar 2019 an das Familiengericht und wies darauf hin, dass für das Kind ihres Erachtens eine akute psychische Kindeswohlgefährdung vorliege und es nicht im Haushalt des Vaters bleiben, sondern zeitlich begrenzt extern untergebracht werden sollte.
[4] Das Familiengericht beauftragte im April 2019 den Diplom-Psychologen A. mit dem Erstellen eines weiteren Gutachtens. Darin kam der Sachverständige A. zu dem Ergebnis, der Vater leide unter einer wahnhaften Störung und beziehe sein Kind in das Wahngeflecht ein. Bei einem Verbleib des Kindes im Haushalt des Vaters sei das Wohl des Kindes massiv gefährdet. Der Sachverständige empfahl, das Kind nicht sofort in den mütterlichen Haushalt zu überführen, sondern es zunächst in einer wohnortnahen Kinder- und Jugendpsychiatrie aufnehmen zu lassen, um therapeutische Maßnahmen einleiten zu können.
[5] 2. Mit Beschl. v. 23.4.2020 übertrug das Familiengericht der Beschwerdeführerin das alleinige Sorgerecht. Ferner gab es ihr auf, das Kind zunächst in einer Einrichtung der Kinder- und Jugendpsychiatrie in der Nähe ihres Wohnortes behandeln zu lassen.
[6] Auf eine Beschwerde des Vaters und des Jugendamts änderte das Oberlandesgericht mit Beschl. v. 2.7.2020 die Entscheidung des Familiengerichts ab und übertrug dem Kindesvater das alleinige ...