Silke Morsch
Im Kindesunterhalt geht die Post ab!
Dafür sorgt seit einiger Zeit der XII. Senat des BGH. Von der Bemessung des Kindesunterhalts bei gehobenen Einkommen, über den Kindesunterhalt nach den zusammengerechneten Einkünften der Eltern zur Neuberechnung des Betreuungsunterhalts werden viele Details auf den dogmatischen Objektträger gelegt. Alles zweifellos praxisrelevante Themen, auch die in der jüngsten Entscheidung vom 18.5.2022 (BGH FamRZ 2022, 1366) ins Visier genommene Neubestimmung der Haftungsquote beim Mehr – und Sonderbedarf.
Initialzündung war die Entscheidung des BGH vom 16.9.2020, FamRZ 2021, 28: "Neben den Tabellenbeträgen, die den Regelbedarf abdecken, kann nach der Rechtsprechung des Senats ein Mehrbedarf für solche Bedarfspositionen treten, welche ihrer Art nach nicht in den Tabellenbedarf und mithin auch nicht in die Steigerungsbeträge einkalkuliert sind.". Das ließ die Praxis aufhorchen: Nach der bisherigen Definition ist Mehrbedarf derjenige Teil des Lebensbedarfs, der regelmäßig während eines längeren Zeitraums anfällt und das Übliche derart übersteigt, dass er mit den Tabellensätzen nicht – zumindest nicht vollständig – erfasst werden kann (so bisher BGH FamRZ 2008, 1158). Mit dieser Definition bereitet die Abgrenzung von Bedarfspositionen im Grenzgebiet zwischen Elementar- und Mehrbedarf Schwierigkeiten und so ist in der obergerichtlichen Rechtsprechung häufig ein Teil des Mehrbedarfs als dem Elementarunterhalt zugehörig erklärt worden. Der Schwenk des XII. Senats dient der Klarstellung: Ist die Bedarfsposition in der Struktur der DT enthalten, dann (erhöhter) Regelbedarf, demgemäß vom Barunterhaltspflichtigen alleine zu tragen, ist die Bedarfsposition in der Struktur der DT nicht enthalten, dann Mehrbedarf und demgemäß zwischen den Eltern quotal aufzuteilen.
Ausgangspunkt ist die Neuberechnung des Betreuungsunterhalts (BGH FamRZ 2021, 1965). Da sich der Lebensbedarf des Kindes gem. §1610 BGB nach dem gemeinsamen Einkommen der Eltern richtet, werden für die Unterhaltsbemessung die Erwerbseinkünfte des betreuenden Elternteils um den Betrag vermindert, der sich rechnerisch als Differenz zwischen dem Kindesunterhalt nach dem gemeinsamen Einkommen und demjenigen allein nach dem Einkommen des Barunterhaltspflichtigen ergibt. Denn, so der BGH, in dieser Höhe leistet der betreuende Elternteil neben dem Betreuungsunterhalt restlichen Barunterhalt in Form von Naturalunterhalt. Der Betreuende leistet Barunterhalt, obwohl er nichts zahlt! (Kritisch z.B. Heinrich Schürmann, FF 2022, 356 ff.)
Zur Bestimmung der Haftungsquote beim Mehr- und Sonderbedarf sei vom beiderseitigen Einkommen der Eltern und beim betreuenden Elternteil auch unter Berücksichtigung des geleisteten restlichen Barunterhalts in Form von Naturalunterhalt auszugehen. Naturalunterhalt ohne jeglichen konkret von der Kindesmutter dargelegten Sachvortrag? Dabei hat sich der betreuende Elternteil grundsätzlich quotal am Mehrbedarf zu beteiligen, weil die Befreiung vom Barunterhalt nach § 1606 Abs. 3 Satz 2 BGB nicht greift. Warum sollen für den betreuenden Elternteil andere Regeln der Darlegungslast gelten? Immerhin verschieben sich die Einkommensverhältnisse zulasten des Barunterhaltspflichtigen, wenn sich das Einkommen des Betreuenden um den als Barunterhalt verkleideten Naturalunterhalt vermindert.
Wird die auf das Residenzmodell zugeschnittene Düsseldorfer Tabelle einer derartigen Betrachtung künftig noch gerecht? Oder müsste der Gesetzgeber vor dem Hintergrund gewandelter Betreuungsmodelle nicht grundsätzlich eine Unterhaltsrechtsreform angehen?
Zu Recht waren diese Themen Gegenstand der aktuellen Stunde auf der diesjährigen Herbsttagung in Leipzig. Und sie werden auf dem Forum der Arbeitsgemeinschaft im Frühjahr 2023 in Berlin zu erörtern sein.
Autor: Silke Morsch
Silke Morsch, Rechtsanwältin und Fachanwältin für Familienrecht, Schwetzingen
FF 11/2022, S. 425