Die Pflicht zur Verschaffung des persönlichen Eindrucks kommt nur zum Tragen, wenn "das Kind mangels verbaler Ausdrucksmöglichkeiten offensichtlich nicht in der Lage ist, sich im Rahmen einer persönlichen Anhörung zu äußern". Das OLG Frankfurt hat in Fällen des § 159 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 FamFG ausgeführt, dass "das Kind zumindest kurz in seinem Verhalten zu beobachten ist, um Rückschlüsse auf seine Befindlichkeit ziehen zu können".
Diese Begründung ist in der Sache viel zu knapp gehalten, sodass sie für die Praxis kaum Relevanz hat. Die Inaugenscheinnahme ist viel komplexer als es der Beschluss des OLG Frankfurt erahnen lässt. Die Verschaffung des persönlichen Eindrucks erschöpft sich nicht in der bloßen Beobachtung des im Gerichtssaal anwesenden Kindes. Würde das genügen, dann wäre die Inaugenscheinnahme auch bei schlafenden Säuglingen und Kleinstkindern erfüllt. Vielmehr ist erforderlich, dass diese sehr jungen Kinder bei der Inaugenscheinnahme sich in einem wachen Zustand befinden. Das hat zur Folge, dass der Richter die Anberaumung der Terminsstunde auf einen Zeitpunkt legt, zu dem der Säugling bzw. das Kleinstkind in der Regel sich in einem wachen Zustand befinden. Der/die erkennende(n) Richter muss/müssen sich demzufolge bei den Sorgeberechtigten vorab nach den Schlafzeiten des Säuglings bzw. Kleinstkindes erkundigen. Wird hiernach nicht gefragt, macht es im Einzelfall keinen Sinn, den Eltern aufzugeben, das Kind zum Termin mitzubringen, wenn es im Termin durchgehend schläft! Zwar kann dieses Verhalten beobachtet werden. Aber diese Beobachtung ist ohne Erkenntniswert. Ein Erkenntniswert ist in der Regel erst dann vorhanden, wenn das Kind wach ist. In diesem Fall kann das Gericht dann eine Interaktion zwischen dem Kind und seinen Eltern beobachten; sie gibt Aufschluss darüber, wie das Kind auf das Verhalten der Eltern reagiert und umgekehrt. Wenn z.B. das Kind sich bei der Inaugenscheinnahme unwohl fühlt und zu schreien anfängt, dann ist in diesem Zusammenhang von großer Bedeutung, wie die Eltern mit dieser Situation umgehen. Verhalten sie sich professionell oder sind sie überfordert? Handeln sie prompt, nachdem sie zuvor den Grund für das Schreien festgestellt haben oder agieren sie hilflos? Hierfür können teilweise die Kriterien herangezogen werden, die Balloff für die Diagnose bei Fragen der Rückkehroption des Kindes in die Herkunftsfamilie nach dem Konzept der Feinfühligkeit herausgearbeitet hat, nämlich die Hilfe- und Veränderungsakzeptanz.
Auch wenn der Richter diese Situation feststellen und beschreiben kann, muss hierbei aber stets bedacht werden, dass die Eltern bei der gerichtlichen Inaugenscheinnahme ihres Kindes unter Beobachtung von Juristen stehen und sie sich daher in einem Spannungsverhältnis, mithin in einer Ausnahmesituation befinden. Bei ihnen besteht u.U. eine Verkrampfung, die ihr Handeln bei Gericht in einem anderen Licht erscheinen lässt, als es sonst der Fall ist. Mit Rücksicht hierauf wird bezweifelt, ob "sich ein zusätzlicher Informationsgewinn aus der persönlichen Inaugenscheinnahme für das Gericht ergibt". Lies-Benachib führt in diesem Zusammenhang aus: "Aus beobachteten Reaktionen zu viel herauslesen zu wollen, ist im Übrigen oft riskant. Familienrichterinnen und Familienrichter treffen in der Regel an Gerichtsstelle auf Kinder, die schon durch die wenig kindgerechte Umgebung und das Setting der Anhörung kaum dazu in der Lage sind, sich natürlich zu geben".