1. Persönliche Anhörung bzw. persönliche Inaugenscheinnahme des Kindes als ein Verfahrensgrundsatz mit Verfassungsrang
Bei der gemäß § 159 Abs. 1 FamFG vorgeschriebenen persönlichen Anhörung bzw. der persönlichen Inaugenscheinnahme des Kindes handelt es sich um einen Verfahrensgrundsatz mit Verfassungsrang, der die Stellung des Kindes als Subjekt im Verfahren, seine Grundrechte und sein rechtliches Gehör schützt. Der in Art. 103 Abs. 1 GG gewährleistete Anspruch auf rechtliches Gehör steht, wie das BVerfG in seiner Entscheidung vom 31.10.2023 ausgeführt hat, "in funktionalem Zusammenhang mit der Rechtsschutzgarantie und der Justizgewährungspflicht des Staates. Der Einzelne soll nicht bloßes Objekt der richterlichen Entscheidung sein, sondern von einer Entscheidung, die seine Rechte betrifft, zu Wort zu kommen, um als Subjekt auf das Verfahren und sein Ergebnis Einfluss nehmen zu können. Art. 103 Abs. 1 GG vermittelt allen an einem gerichtlichen Verfahren Beteiligten einen Anspruch darauf, sich zum verfahrensgegenständlichen Sachverhalt und zur Rechtslage zu äußern, sowie Anträge zu stellen und Ausführungen zu machen. Dementsprechend erfordert die Gewährung rechtlichen Gehörs, einer gerichtlichen Entscheidung lediglich solche Tatsachen und Beweisergebnisse zugrunde zu legen, zu denen sich die Beteiligten vorher äußern konnten. Mit dem Äußerungsrecht korrespondiert die Pflicht des Gerichts, Ausführungen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Das Äußerungsrecht ist mit dem ebenfalls in Art. 103 Abs. 1 GG wurzelnden Recht auf Information eng verknüpft. Eine den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügende Gewährung rechtlichen Gehörs erfordert, dass die Verfahrensbeteiligten erkennen können, auf welchen Tatsachenvortrag es für die Entscheidung ankommen kann. Sie müssen sich unter Anwendung der gebotenen Sorgfalt über den gesamten Verfahrensstoff unterrichten können. Den Gerichten obliegt in diesem Zusammenhang, von sich aus den Beteiligten alles für das Verfahren Wesentliche mitzuteilen".
Mit Rücksicht hierauf kann der Kindeswille nicht aus dem Vortrag der Beteiligten abgeleitet werden, sondern ist insbesondere durch die persönliche Anhörung des Kindes zu ermitteln. Denn die Mitteilung des Kindes kann auf die zu treffende Entscheidung durchaus Einfluss haben, weil es die Möglichkeit erhält, die eigene Perspektive in das familiengerichtliche Verfahren einzubringen. Nur dadurch wird der Anhörungspflicht im Rahmen der Amtsermittlung gemäß § 26 FamFG Genüge getan sowie dem gebotenen Grundrechtsschutz durch die Gestaltung des Verfahrens Rechnung getragen.
2. Persönliche Anhörung des Kindes nach § 159 Abs. 1 FamFG
Betroffene Kinder sind nach § 159 Abs. 1 FamFG grundsätzlich in allen Kindschaftssachen persönlich anzuhören. Daher ist die persönliche Anhörung des Kindes auch in den Fällen des § 1626a Abs. 2 S. 2 BGB, 155a Abs. 3 S. 1 FamFG nicht entbehrlich. Gleiches gilt in Verfahren betreffend das Umgangsrecht eines sozialen Vaters nach § 1685 Abs. 2 BGB. Auch hier ist das Kind persönlich anzuhören. Die notwendige Kindesanhörung gilt auch im einstweiligen Anordnungsverfahren, § 51 Abs. 2 S. 1 FamFG. Nach § 51 Abs. 3 S. 2 FamFG kann im Hauptsacheverfahren von einzelnen Verfahrenshandlungen abgesehen werden, wenn diese bereits im einstweiligen Anordnungsverfahren vorgenommen wurden und von einer erneuten Vornahme keine zusätzlichen Erkenntnisse zu erwarten sind. Eine analoge Anwendung dieser Vorschrift wird angenommen, dass eine bereits im Hauptsacheverfahren erfolgte Anhörung im einstweiligen Anordnungsverfahren nicht wiederholt werden muss. Die Pflicht zur Kindesanhörung bezieht sich ebenfalls auf die Verfahren, die vom Rechtspfleger geführt werden. Denn es wird in der Vorschrift des § 159 FamFG nicht nach der funktionalen Zuständigkeit differenziert.
Die persönliche Anhörung eines Kindes vor einem Richter oder Rechtspfleger muss unmittelbar mündlich erfolgen. Schriftlich oder telefonisch durchgeführte Anhörungen reichten nicht aus, weil sie nicht visuell und auditiv erfolgt sind. Es fehlt die gleichzeitige Anwesenheit der Gesprächspartner.
Die Anhörungspflicht des Kindes ist unabhängig von seinem Alter. Der Gesetzgeber hielt eine Unterscheidung nach dem Kindesalter im Hinblick darauf für nicht erforderlich, dass die Fähigkeiten eines Kindes, einen eigenen Willen zu entwickeln und im Verfahren zum Ausdruck zu bringen, individuell verschieden und nicht vom Alter des Kindes abhängig sind. Unbeschadet dessen entspricht es höchstrichterlicher Rechtsprechung, dass Kinder in einem ihre Person betreffenden Verfahren jedenfalls bereits ab einem Alter von drei Jahren persönlich anzuhören sind.
Auch die Corona-Pandemie bot zumindest bei Kindern über sechs Jahre keinen Anlass, in einer Kindschaftssache auf die Anhörung des Kin...