Bisweilen wird – auch im politischen Raum – das Argument "Verfassungswandel" als methodische Rechtfertigung angeführt, Art. 6 Abs. 1 GG ein gewandeltes Eheverständnis und dessen Erstreckung auf gleichgeschlechtliche Paare zu unterlegen. In seiner Entscheidung zur Sukzessivadoption durch Eingetragene Lebenspartner vom Februar 2013 hat immerhin der Erste Senat des BVerfG – bezogen auf den Begriff der "Eltern" – einen solchen methodischen Zugriff gewagt: Das Gericht nimmt (gewiss deskriptiv zutreffend) an, dass gleichgeschlechtliche Paarbeziehungen außerhalb des gesellschaftlichen Vorstellungshorizonts bei Schaffung des – seitdem im Wortlaut unveränderten – Art. 6 GG lagen.
Zitat
"Die Grenzen der damaligen Vorstellungswelt und des dabei unterlegten historischen Begriffsverständnisses sind indessen mit der Veränderung der rechtlichen Einordnung von Homosexualität nach und nach entfallen. Gegenüber der Situation bei Inkrafttreten des Grundgesetzes hat sich nicht nur das Gesetzesrecht, sondern auch die Einstellung der Gesellschaft zur Gleichgeschlechtlichkeit und der Lebenssituation gleichgeschlechtlicher Paare erheblich gewandelt."
Projiziert man diese Argumentationslinie nun auf den Ehebegriff des Art. 6 Abs. 1 GG, ließe sich auch hier analog argumentieren und gerade die gesetzliche Öffnung der Ehe als Indiz für ein verändertes Begriffsverständnis heranziehen, das erweiterte gesellschaftliche Vorstellungshorizonte zum Ausdruck bringe. Zwingend ist dies nicht. Der Zweite Senat des BVerfG hat zudem bereits drei Monate später in seiner Splittingentscheidung (bewusst?) den Charakter der "Ehe als allein der Verbindung zwischen Mann und Frau vorbehaltenes Institut" unterstrichen und dies später bekräftigt.
a) "Verfassungswandel" zwischen Inhaltsänderung, Interpretation und Beschreibung
Gegen die Anerkennung eines – allgemein skeptisch beurteilten – "Verfassungswandels" im Sinne einer gesellschaftsakzessorischen Veränderung von Norminhalten durch Interpretation spricht vor allem, dass dieser die formalisierten Verfahren der Verfassungsänderung nach Art. 79 GG unterläuft. Die Verfassungsänderung ist der primäre Ort, gesellschaftliche Veränderungen politisch in Verfassungsrecht zu übersetzen. Gewiss gibt es daneben auch noch andere – normimmanente – Öffnungen für gesellschaftliche Veränderungsprozesse, um "zeitgebundenen Antworten der Verfassung" Ventile zu bieten: Vor allem der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verweist mit Eignung und Erforderlichkeit auf außerrechtliche (faktische) Relationen, die sich auch unabhängig vom Recht verschieben können. Veränderte gesellschaftliche Wahrnehmungen und Reaktionsbedürfnisse können ebenfalls hierunter fallen, zumal staatlich nicht steuerbare Rationalitätsressourcen der Gesellschaft (von der wissenschaftlichen Erkenntnis über Prozesse praktischer Wissensgenerierung bis zu ethischen Grundhaltungen) staatliche Organe mit den jeweiligen Rationalitätserwartungen der Zeit konfrontieren. Gesellschaftliche Kommunikationsprozesse können Problemwahrnehmungen verändern oder Perspektiven schärfen, was dann auch mittelbar die Verfassungsgerichtsbarkeit erreicht. Gerade der Umgang mit Homosexualität im Recht zeigt dies. Hierbei geht es nicht nur um die richtersoziologische Beschreibung sozialer Prägungen der Entscheidungsfindung, sondern um notwendige Rückkopplungen der Verhältnismäßigkeitsprüfungen an gesellschaftlichen Wandel, der relationale Interessenabwägungen nicht unberührt lassen kann. Auch das Sittengesetz (Art. 2 Abs. 1 GG) ist eine – zwischen pluralistischer Gesellschaft und bürokratischer Verrechtlichungsmaschine freilich an den Rand der Bedeutungslosigkeit gedrängte – Verweisung auf soziale Verhaltenserwartungen, die sich in der Zeit ändern können. Schließlich ist die Subsumption konkreter Fälle im Rahmen der Konkretisierung und Individualisierung des Rechts als wertungsabhängiger Akt intertemporalen Perspektivenverschiebungen und epistemischen Fortschritten unterworfen.
Nicht erklärbar bleibt es aber, wie sich der abstrakt-generelle Inhalt einer Norm (und nicht nur die Sicht ihrer Interpreten) dadurch ändern soll, dass relevante Teile (welche eigentlich?) der Gesellschaft eine andere Einstellung zu einer Norm entwickeln. Die strukturimmanente Kontrafaktizität von Normen bedingt es, dass zwischen normativer Geltung und faktischen Anwendungspraktiken unterschieden werden muss und abweichende Praktiken den Norminhalt nicht in Frage stellen können. Das schill...