Selbst wenn man – anders als hier – einen Verfassungswandel für möglich hielte, stellt sich die Frage, woran sich dieser eigentlich objektivieren soll. Diffuse gesellschaftliche Stimmungen sind schon aufgrund ihrer Informalität, Instabilität und Unbestimmtheit keine taugliche Grundlage für verfassungsnormative Schlussfolgerungen. Was für die einen eine konsequente Fortschreibung der Ehe als Lebensform ist, hat für andere "das Ehebild grundlegend geändert". Eine romantische Einheit der Gesellschaft als Zurechnungssubjekt ist unter Bedingungen eines freiheitlichen Pluralismus nicht zu haben. Für die gesellschaftsakzessorischen, aber formale Zurechnung ermöglichenden Leistungen der repräsentativ-demokratischen Gesetzgebung – hier also der gesetzlichen Öffnung der Ehe – sieht dies zwar anders aus. Würde man indes bereits den Umstand, dass der Deutsche Bundestag mit einfacher Mehrheit ein Gesetz zu einem verfassungsrechtlich belegten Begriff verabschiedet, als Indikator für einen "Verfassungswandel" akzeptieren, würden sowohl die Normenhierarchie (Vorrang der Verfassung) als auch die Formalität der Verfassungsänderung (Art. 79 GG) evident unterlaufen.
Was einen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel ausmacht, der verfassungsnormative Formationskraft entfalten soll, ist nach alldem spekulativ, amorph und zudem nicht ungefährlich: Geschichtsphilosophisch inspirierten Heilslehren trotzend, ist gesellschaftlicher Wandel keine Fortschritts-Einbahnstraße, auch wenn dies bis vor Kurzem populäres Narrativ der Berliner Republik war. Gesellschaft kann sich auch in eine andere Richtung entwickeln. Wollen wir dann tatsächlich die Errungenschaften eines hochwertigen liberalen Freiheits- und Gleichheitsschutzes durch Grundrechte und eine effektive Verfassungsgerichtsbarkeit wieder zurückstutzen, wenn grundlegend gewandelte gesellschaftliche Präferenzen (wie in Polen, Ungarn, den Vereinigten Staaten oder der Türkei) eine anti-liberale Schubumkehr erzwingen wollen? "Das Volk sind wir!" schreien derzeit in der westlichen Welt vor allem Populisten. Wer heute die Verfassung verflüssigt, um fortschrittsoptimistisch Wandel zu konstitutionalisieren, könnte die Retourkutsche morgen gerade dann bekommen, wenn es auf eine stabile, berechenbare und wandlungsresistente Verfassung sowie Verfassungsrechtsprechung besonders ankommt. Man kann innerhalb eines kohärenten Theoriegebäudes nicht einerseits den Minderheitenschutz stärken, andererseits aber Verfassungsinhalte einer (gefühlten) Mehrheitsmeinung anpassen, wenn es politisch opportun erscheint. Demokratisches Politikvertrauen und die Beharrlichkeit, für Überzeugungen einzustehen (wie dies fraglos die Befürworter der "Ehe für Alle" getan haben), ist einem "Verfassungswandel" aus ängstlicher Konstitutionalisierungssehnsucht allemal überlegen.