I. Sachverhalt
Der Sozialhilfeträger, der die Kosten für die in einem Pflegeheim untergebrachte Mutter des unterhaltspflichtigen Kindes trägt, verlangt von diesem aus übergegangenem Recht Unterhalt für die Zeit bis April 2008 in Höhe von 21.030 EUR, danach gestaffelt 674 EUR und 701 EUR monatlich (§§ 94 Abs. 1 Satz 1 SGB XII i.V.m. §§ 1601 ff. BGB). Die Mutter leidet bereits seit der Kindheit des Beklagten an einer Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis. Sie hat ihn bis zur Trennung und Scheidung im Jahr 1973 – mit Unterbrechungen wegen z.T. längerer Krankenhausaufenthalte – versorgt. Seit drei Jahrzehnten besteht zwischen den beiden kein Kontakt mehr.
Die den Unterhaltstatbestand begründenden Voraussetzungen, die der Unterhaltsberechtigte oder sein Rechtsnachfolger darzulegen und zu beweisen hat, sind unstreitig erfüllt. Zu entscheiden war, ob der Anspruch wegen Einwendungen des Beklagten unbegründet ist. Der BGH hat dies verneint.
II. Verwirkung
Ein Recht kann nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen (§ 242 BGB) verwirkt sein, wenn der Berechtigte dieses längere Zeit nicht geltend gemacht hat, obwohl er dazu in der Lage war, und der Verpflichtete sich mit Rücksicht auf das gesamte Verhalten des Berechtigten darauf einstellen durfte und eingestellt hat, dass er dieses Recht auch künftig nicht geltend machen werde. Der BGH sieht das Zeitmoment – bei Unterhalt genügt ein Jahr wegen der Gefahr des Anwachsens einer erdrückenden Schuldenlast – und das Umstandsmoment als nicht erfüllt an, weil sich die Sozialhilfebehörde durchgängig um die Realisierung des Unterhaltsanspruchs bemüht hatte.
III. Ausschluss nach § 1611 BGB
Eine Beschränkung oder ein Ausschluss des Unterhaltsanspruchs nach § 1611 BGB setzt voraus, dass der Unterhaltsberechtigte durch sittliches Verschulden bedürftig geworden ist oder seine eigene Unterhaltspflicht gegenüber dem Unterhaltspflichtigen gröblich vernachlässigt oder sich vorsätzlich einer schweren Verfehlung gegen ihn oder seinen Angehörigen schuldig gemacht hat. Eine schwere Verfehlung kann regelmäßig nur bei einer tief greifenden Beeinträchtigung schutzwürdiger wirtschaftlicher Interessen oder persönlicher Belange des Pflichtigen angenommen werden. Die Vorschrift hat der BGH etwa wegen grober Verletzung der Beistandspflicht i.S.v. § 1618a BGB angewandt, weil die später unterhaltsbedürftige Mutter nach Amerika gegangen war und ihre Tochter als Kleinkind bei der Großmutter in Deutschland zurückgelassen und sich danach nicht in nennenswertem Umfang um sie gekümmert hatte. Im jetzt entschiedenen Fall kann der Mutter ein schuldhaftes Fehlverhalten nicht angelastet werden. Ein vorsätzliches Handeln im natürlichen Sinn reicht nicht aus. Mangelnde Kontakte und bloße Entfremdung, auch wenn sie seit langer Zeit vorliegen, genügen für die Beschränkung oder den Ausschluss des Anspruchs nicht.
Ein weiterer zivilrechtlicher Hindernisgrund für eine Inanspruchnahme ist nicht ersichtlich. Im Unterhaltsrecht der Verwandten gibt es, anders als nach § 1578b BGB unter Geschiedenen, keine Bestimmung, die eine Einschränkung der familiären Solidarität bei Bedürftigkeit als Folge schicksalhafter Krankheit gestattet. Vielmehr schließt der BGH die Begründung seiner Entscheidung damit ab, dass wegen der vom Gesetz geforderten familiären Solidarität die als schicksalsbedingt zu qualifizierende Krankheit der Mutter und deren Auswirkungen auf den Sohn es nicht rechtfertigten, die Unterhaltslast dem Staat aufzubürden.
IV. Sozialhilferechtliche Härte
§ 94 SGB XII beschränkt oder schließt den Übergang des Unterhaltsanspruchs auf den Träger der Sozialhilfe aus, u.a. wenn dieser nach öffentlich-rechtlichen Kriterien eine unbillige Härte bedeuten würde. Diese wurde vom BGH in einem Fall bejaht, in welchem der Elternteil wegen einer auf seine Kriegserlebnisse zurückzuführenden psychischen Erkrankung nicht in der Lage war, für das auf Elternunterhalt in Anspruch genommene Kind zu sorgen. Ein derartiger Zusammenhang der Krankheit mit dem früheren Einsatz des Bedürftigen für den Staat liegt hier nicht vor. Es fehlen auch Umstände für eine Beschränkung des Anspruchsübergangs auf die Sozialhilfebehörde, die sich aus dem sozialhilferechtlichen Gebot ergeben, auf die Interessen und Beziehungen der Familie Rücksicht zu nehmen. Zivilrechtliche Störungen des Familienfriedens i.S.d. § 1611 BGB begründen grundsätzlich keine unbillige Härte i.S.d. öffentlich-rechtlichen Bestimmung des § 94 SGB XII.
V. Betreuung als Unterhaltspflicht
Besonders aufmerksam zu machen ist auf folgenden Satz in der Entscheidung im Zusammenhang mit der Prüfung der Voraussetzungen des § 1611 BGB:
Zitat
"Denn da die Mutter krankheitsbedingt nicht in der Lage war, den Beklagten (sc. als Kind) angemessen zu betreuen, war sie wegen dieser Einschränkungen – wie ein Barunterhaltspflicht schuldender Elternteil bei wirtschaftlicher Leistungsunfähigkeit – nicht zum Unterhalt verpflichtet".
Damit erkennt der BGH an, dass die Betreuung nicht lediglich ein Ersatz für Barunterhalt ...