BGB § 242 § 1611; SGB XII § 94 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2
Leitsatz
a) Gem. § 1611 Abs. 1 Satz 1 Alt. 3 BGB setzt die Verwirkung wegen einer schweren Verfehlung ein Verschulden des Unterhaltsberechtigten voraus. Es genügt nicht, wenn er in einem natürlichen Sinne vorsätzlich gehandelt hat.
b) Eine Störung familiärer Beziehungen i.S.d. § 1611 BGB genügt grundsätzlich nicht, um eine unbillige Härte i.S.d. § 94 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII zu begründen und damit einen Anspruchsübergang auf den Träger der Sozialhilfe auszuschließen.
Etwas anderes gilt nur dann, wenn der nach § 1611 BGB zu beurteilende Lebenssachverhalt aus Sicht des Sozialhilferechts auch soziale Belange erfasst, die einen Übergang des Anspruches nach öffentlich-rechtlichen Kriterien ausschließen (Klarstellung zum Senatsurt. v. 21.4.2004 – XII ZR 251/01, FamRZ 2004, 1097).
BGH, Urt. v. 15.9.2010 – XII ZR 148/09 (OLG Hamm, AG Bottrop)
Sachverhalt
Tatbestand: [1] Die Klägerin nimmt den Beklagten auf Zahlung von Elternunterhalt für seine 1935 geborene Mutter aus übergegangenem Recht in Anspruch.
[2] Die Klägerin ist Trägerin der öffentlichen Hilfe, die der Mutter des Beklagten, Frau M., seit November 2005 gewährt wird. Frau M. befindet sich seit April 2005 in einem Pflegeheim. Sie litt schon während der Kindheit des Beklagten an einer Psychose mit schizophrener Symptomatik und damit einhergehend an Antriebsschwäche und Wahnideen. Frau M. hat den 1961 geborenen Beklagten bis zur Trennung und Scheidung von ihrem damaligen Ehemann im Jahr 1973 – mit Unterbrechungen wegen z.T. längerer stationärer Krankenhausaufenthalte – erzogen und versorgt. Seit spätestens 1977 besteht – bis auf gelegentliche Zusammentreffen auf Familienfeiern – kein Kontakt mehr zwischen dem Beklagten und seiner Mutter.
[3] Die Klägerin forderte den Beklagten mit Rechtswahrungsanzeige vom 9.11.2005 zur Auskunftserteilung auf. Dieser erteilte Auskunft und berief sich auf Verwirkung gem. § 1611 BGB. Nach Bezifferung des Anspruchs im Dezember 2006 und Zahlungsaufforderung im März 2007 hat die Klägerin schließlich im April 2008 Klage erhoben.
[4] Das Familiengericht hat den Anspruch auf Zahlung von Elternunterhalt für den Zeitraum von November 2005 bis einschließlich März 2007 gem. § 242 BGB als verwirkt angesehen. Im Übrigen hat es den Beklagten zur Zahlung rückständigen sowie laufenden Elternunterhalts für die Zeit von Mai 2008 an in Höhe von monatlich 649 EUR verurteilt.
[5] Die hiergegen eingelegte Berufung des Beklagten blieb erfolglos. Auf die Berufung der Klägerin hat das Berufungsgericht den Beklagten verurteilt, rückständigen Elternunterhalt an die Klägerin bereits ab November 2005 und laufenden Unterhalt zu zahlen, u.a. von Januar bis Juni 2009 in Höhe von 674 EUR sowie von Juli 2009 an in Höhe von monatlich 701 EUR.
[6] Hiergegen wendet sich der Beklagte mit seiner vom Berufungsgericht zugelassenen Revision.
Aus den Gründen
Aus den Gründen: [7] Die Revision hat keinen Erfolg.
I. [8] Das Berufungsgericht, dessen Entscheidung in FamRZ 2010, 303 veröffentlicht ist, hat seine Entscheidung wie folgt begründet: (wird ausgeführt)
II. [15] Diese Ausführungen halten einer rechtlichen Überprüfung stand.
[16] 1. Allerdings weist der Beklagte zu Recht darauf hin, dass seine Revision uneingeschränkt zulässig sei.
(wird ausgeführt).
[20] 2. Das Berufungsgericht hat den Beklagten zu Recht zur Zahlung von Elternunterhalt aus übergegangenem Recht gem. §§ 1601 BGB, 94 SGB XII verurteilt.
[21] a) Die Revision beanstandet, dass das Berufungsgericht eine Verwirkung nach § 242 BGB bzw. § 1611 BGB abgelehnt und einen Anspruchsübergang auf die Klägerin gem. § 94 SGB XII bejaht habe. Die übrigen Feststellungen bzw. Ausführungen des Berufungsgerichts zu Grund und Höhe des geltend gemachten Unterhaltsanspruchs greift die Revision nicht an. Insoweit sind Rechtsfehler auch nicht ersichtlich.
[22] b) Ebenso wenig sind die Ausführungen des Berufungsgerichts zu beanstanden, wonach der rückständige Unterhaltsanspruch der Klägerin nicht nach den Grundsätzen von Treu und Glauben gem. § 242 BGB verwirkt ist.
[23] aa) Eine Verwirkung kommt nach allgemeinen Grundsätzen in Betracht, wenn der Berechtigte ein Recht längere Zeit nicht geltend macht, obwohl er dazu in der Lage wäre, und der Verpflichtete sich mit Rücksicht auf das gesamte Verhalten des Berechtigten darauf einrichten durfte und eingerichtet hat, dass dieser sein Recht auch in Zukunft nicht geltend machen werde (Senatsurt. v. 23.10.2002 – XII ZR 266/99, FamRZ 2002, 1698; v. 22.11.2006 – XII ZR 152/04, FamRZ 2007, 453, 455 und v. 10.12.2003 – XII ZR 155/01, FamRZ 2004, 531, 532). Für Unterhaltsansprüche sind an das Zeitmoment der Verwirkung keine strengen Anforderungen zu stellen. Von einem Unterhaltsgläubiger, der lebensnotwendig auf Unterhaltsleistungen angewiesen ist, muss eher als von einem Gläubiger anderer Forderungen erwartet werden, dass er sich zeitnah um die Durchsetzung des Anspruchs bemüht. Anderenfalls können Unterhaltsrückstände zu einer erdrückenden Schuldenlast anwachsen. Abgesehen davon sind im Unte...