GG Art. 1 Abs. 1 2 Abs. 1 6 Abs. 1 i.V.m. 20 Abs. 3 u. 3 Abs. 1; BGB § 1779; BVerfGG § 93a Abs. 2 Buchst. b
Leitsatz
1. Bestehen zwischen nahen Verwandten tatsächlich von familiärer Verbundenheit geprägte engere Bindungen, sind diese vom Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG erfasst. Er umfasst das Recht, bei der Entscheidung über die Auswahl eines Vormunds in Betracht gezogen zu werden. Großeltern und sonstigen nahen Verwandten kommt bei der Auswahl des Vormunds der Vorrang gegenüber nicht verwandten Personen zu, sofern nicht im Einzelfall konkrete Erkenntnisse darüber bestehen, dass dem Wohl des Kindes durch die Auswahl einer dritten Person besser gedient ist.
2. Für die Frage, ob im konkreten Einzelfall dem Kindeswohl durch die Bestellung eines außenstehenden Vormunds besser gedient ist als durch die Auswahl der Großeltern, kommt es auch darauf an, ob das Kind bereits bei den Großeltern lebt oder zeitnah zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt gelebt hat, weil die Herausnahme des Kindes aus seiner gewohnten Umgebung regelmäßig eine erhebliche psychische Belastung bedeutet.
3. Generelle Annahmen können das Übergehen der Großeltern bei der Bestimmung des Vormunds von Verfassungs wegen nicht tragen. Vielmehr bedarf es der Darlegung konkreter Erkenntnisse darüber, dass dem Wohl des Kindes angesichts der besonderen Umstände des Einzelfalls durch die Auswahl einer dritten Person besser gedient ist. Hierbei ist auch der Wunsch des Kindes, bei den Großeltern bleiben zu wollen, zu berücksichtigen.
4. Das Recht auf effektiven Rechtsschutz begründet generell keinen Anspruch auf eine zweite Instanz. Die Annahme der Fachgerichte, § 59 Abs. 1 FamFG verschaffe Großeltern grundsätzlich keine Beschwerdebefugnis gegen die Bestellung einer anderen Person zum Vormund ihres Enkels, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
(Leitsätze der Redaktion)
BVerfG, Beschl. v. 27.8.2014 – 1 BvR 1467/14 (OLG Hamm, AG Detmold)
1 Gründe:
[1] I. Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Bestellung einer Großmutter zur Vormundin ihres Enkelsohnes.
[2] 1. Die Beschwerdeführerin ist Mutter eines Sohnes und Großmutter von drei Enkelkindern im Alter von einem, drei und sieben Jahren. Das hiesige Verfahren betrifft allein den ältesten Enkelsohn. Im ersten halben Jahr nach der Geburt dieses Enkels lebten die Eltern mit der Beschwerdeführerin und deren Mann (dem Stiefvater des Vaters) in einem Haus. Auch danach haben die Großeltern das Kind an jedem zweiten Wochenende zu sich genommen.
[3] a) Im November 2012 entzog das Amtsgericht den Eltern einstweilig das Aufenthaltsbestimmungsrecht, die Gesundheitssorge und das Recht zur Beantragung von Erziehungshilfen für alle drei Kinder und bestellte das Jugendamt zum Vormund. Das älteste Kind wechselte unmittelbar in den Haushalt der Beschwerdeführerin.
[4] b) Im amtsgerichtlichen Hauptsacheverfahren einigten sich die Eltern und das Jugendamt zunächst darauf, dass der älteste Enkelsohn bis zur Vorlage eines Gutachtens zur elterlichen Erziehungsfähigkeit bei den Großeltern bleiben soll. Das Amtsgericht holte ein familienpsychologisches Gutachten dazu ein, ob es erforderlich sei, den Eltern das Sorgerecht zu entziehen. Die Beschwerdeführerin beantragte, ihr die Vormundschaft für den ältesten Enkel nach zu übertragen.
[5] In der mündlichen Verhandlung äußerte der zu einem Verbleib des Kindes bei den Großeltern befragte Sachverständige, nach seiner Einschätzung könne sich das Kind in einer Pflegefamilie aller Wahrscheinlichkeit nach wesentlich besser entwickeln. Auch die Verfahrensbeiständin und die Vertreterin des Jugendamts sprachen sich dafür aus, eine dritte Person zum Vormund zu bestellen. Die Eltern des Enkelsohns erklärten hingegen beide, es sei ihnen wichtig, dass das Kind bei den Großeltern bleiben könne. Die Beschwerdeführerin wiederholte in der mündlichen Verhandlung, Hilfen für das Kind und gegebenenfalls auch für sich selbst in Anspruch nehmen zu wollen.
[6] c) Mit Beschl. v. 18.11.2013 entzog das Amtsgericht den Eltern das gesamte Sorgerecht für den ältesten Sohn und bestellte die vormalige Verfahrensbeiständin der Kinder zur Vormundin. Das Amtsgericht begründet seine Entscheidung wie folgt: Die Großeltern, die als Verwandte grundsätzlich bevorzugt zu behandeln seien, schieden als Vormund aus. Insoweit schließe sich das Gericht den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen, der Meinung der Verfahrensbeiständin und der Vertreterin des Jugendamts an. Die Beschwerdeführerin sei als Mutter des Kindesvaters zu sehr in die familiären Strukturen eingebunden, als dass sie in jeder Situation die beste Entscheidung zum Wohle des Kindes treffen könnte. Die nötige Distanz zum Kindesvater fehle. Zum Beispiel müsse der Vormund zusammen mit den Eltern zukünftig den Umgang, die Dauer und die Ausgestaltung der Umgangskontakte regeln und zwar im Interesse des Kindes. Dies sei aber gerade in Bezug auf den Kindesvater schwierig, da dieser ja das eigene Kind sei. Aber auch gegenüber der Kindesmutter, die sich vom Sohn getrennt habe und vielleicht ...