GG Art. 6 Abs. 2 S. 1, Abs. 3; BGB § 1666 Abs. 1, Abs. 3 Nr. 6 § 1666a Abs. 1 S. 1; FamFG § 49 Abs. 1
Leitsatz
1. Die vorläufige Entziehung der elterlichen Sorge erfordert umso weitreichendere Sachverhaltsermittlungen, je geringer der möglicherweise eintretende Schaden des Kindes wiegt, in je größerer zeitlicher Ferne der zu erwartende Schadenseintritt liegt und je weniger wahrscheinlich dieser ist.
2. Die bloße Existenz "besserer" Alternativen vermag den Entzug der elterlichen Sorge nicht zu rechtfertigen.
Dieser setzt voraus, dass im Falle des Verbleibs des Sorgerechts beim Betroffenen eine nachhaltige Kindeswohlgefährdung zu befürchten wäre.
3. Trägt der erziehungsberechtigte Elternteil eine (vorübergehende) Fremdunterbringung des Kindes mit und unterstützt diese, ist ein familiengerichtliches Einschreiten grundsätzlich nicht erforderlich und damit unverhältnismäßig.
(Leitsätze der Red.)
BVerfG, stattgebender Kammerbeschl. v. 13.7.2017 – 1 BvR 1202/17 (OLG Oldenburg, AG Oldenburg)
Anmerkung
Anm. der Red.: Die Entscheidung ist abgedruckt in FF 2017, 447 ff.
2 Anmerkung
Die Entscheidung des BVerfG vom 13.7.2017 stützt sich in ihrer Begründung auf eine ständige Rechtsprechung zu Art. 6 Abs. 2 GG. Die Feststellung, dass die räumliche Trennung eines Kindes von seinen Eltern den stärksten Eingriff in das Elterngrundrecht darstellt, der nur unter strikter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erfolgen darf, enthält ebenso wenig grundlegend neue Aspekte wie der Hinweis, dass bei Entscheidungen im Eilverfahren eine Trennung von Eltern und Kind der besonderen Prüfung bedarf, ob ein Abwarten bis zur Entscheidung in der Hauptsache möglich ist.
Die Besonderheit der Entscheidung sowie ihre Bedeutung für die Praxis folgt allerdings aus der näheren Prüfung, die das BVerfG zu den Fragen vorgenommen hat, ob der streitige vollständige Entzug der elterlichen Sorge verhältnismäßig war und ob bei der Feststellung einer bereits bestehenden oder sicher vorhersehbaren Kindeswohlgefährdung die Vorinstanzen ihren Verpflichtungen zur Sachverhaltsaufklärung nachgekommen sind.
Ob ein Eingriff in das Recht der elterlichen Sorge verhältnismäßig ist, beurteilt sich allein durch nähere Prüfung der in der jeweiligen Entscheidungsbegründung dargestellten juristischen Bewertungen. Es ist daher nur schwer verständlich, dass angesichts einer gefestigten verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung gleichwohl in einer gerichtlichen Entscheidung unverändert nicht der Tatsache Rechnung getragen wird, dass ein Elternteil einer Inobhutnahme überhaupt nicht widersprochen, sondern ausdrücklich sogar eine Verbleibensanordnung angeregt hat. Für die Praxis bedeutet dies, dass in den jeweiligen schriftsätzlichen Stellungnahmen – soweit es rechtlich und tatsächlich indiziert ist – unmissverständlich und wohl auch wiederholt darauf hinzuweisen sein wird, zur Inanspruchnahme welcher konkreten Hilfeleistungen Eltern oder Elternteile ausdrücklich bereit und inwieweit sie mit dem weiteren Verbleib des Kindes in einer Pflegestelle einverstanden sind.
Die auf § 1666 BGB gestützte räumliche Trennung eines Kindes von seinen Eltern rechtfertigt sich nach den in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung entwickelten Kriterien nur dann, wenn das elterliche Fehlverhalten ein solches Ausmaß erreicht hat, dass das Kind im Fall des Verbleibs bei seinen Eltern in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet ist, d.h. entweder bereits ein solcher Schaden eingetreten oder die Gefährdung mit der erforderlichen Sicherheit vorhersehbar ist. Die zur Feststellung dieser entscheidungserheblichen Tatsachen notwendigen Ermittlungen hat das Gericht gemäß § 26 FamFG von Amts wegen durchzuführen, wobei diese Obliegenheit nicht nur für alle Instanzen gilt (§§ 68 Abs. 3, 74 Abs. 4 FamFG), sondern ausdrücklich auch im Eilverfahren gemäß § 51 Abs. 2 FamFG. In der praktischen Umsetzung dieser Amtsermittlung ist realistisch nicht zu erwarten, dass die Gerichte selbst "vor Ort" die notwendigen Ermittlungen durchführen. Eine am Kindeswohl orientierte effektive Amtsermittlung setzt vielmehr zwingend voraus, dass die Gerichte sich nicht nur auf die Informationen stützen können und dürfen, die ihnen von den beteiligten Eltern zur Verfügung gestellt werden, sondern vielmehr eine möglichst umfassende objektive Informationsbasis existiert, auf welcher aufbauend die für die Kindeswohlprüfung erforderlichen Ermittlungen abgeleitet werden können.
Nach § 50 Abs. 1 SGB VIII unterstützt das Jugendamt das Familiengericht bei allen Maßnahmen, die die Sorge für die Person von Kindern und Jugendlichen betreffen. Es berichtet über angebotene und erbrachte Leistungen und bringt erzieherische und soziale Gesichtspunkte zur Entwicklung des Kindes ein. Ebenso weist es auf weitere Möglichkeiten der Hilfe hin. Auch wenn das Jugendamt dabei nicht Hilfsorgan des Gerichts ist, sondern eine eigenständige Position innehat, darf nicht verkannt werden, dass auf der Grundlage der dem Jugendamt zugewiesenen Aufgaben letztlich die zentr...