Das BVerfG hat in seiner Entscheidung vom 7.9.2022 einmal mehr auf eine gefestigte Rechtsprechung[1] zu der gebotenen Folgenabwägung bei Erlass einer einstweiligen Anordnung zurückgreifen müssen, der – mit Blick auf das Kindeswohl – gerade in jenen Sachverhalten besondere Bedeutung zukommt, in denen nicht nur ein mehrfacher Wechsel des bisherigen Lebensumfeldes und Lebensmittelpunkt des Kindes droht, sondern vor allem der Wechsel der bisherigen zentralen Bezugsperson in Rede steht. Flankiert wird diese nationale Rechtsprechung durch Entscheidungsgrundsätze des EGMR, wonach es im all der Trennung des Kindes von seiner Bezugsperson, der Bewertung der hiermit ggf. einhergehenden Eingriffe in das Recht auf Achtung des Familien- und/oder Privatlebens i.S.d. Art. 8 EMRK bedarf.[2]

Der der Entscheidung des BVerfG zugrunde liegende Sachverhalt lenkt zudem aber auch den Blick auf die Voraussetzungen und Umsetzung der Inobhutnahme eines Kindes, d.h. einer Thematik, die in der Praxis nicht nur von zunehmender Bedeutung ist, sondern ebenso erhebliches Konfliktpotential für alle Beteiligten birgt.

I. § 42 Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII sieht die Inobhutnahme eines Kindes oder Jugendlichen vor, wenn eine dringende Gefahr für sein Wohl besteht und entweder der Personensorgeberechtigte der Inobhutnahme nicht widerspricht oder eine familiengerichtliche Entscheidung nicht rechtzeitig eingeholt werden kann.

Handlungsvoraussetzung für das Jugendamt ist damit zunächst die Bewertung, ob eine dringende Gefahr für das Kindeswohl besteht, wobei die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes "Inobhutnahme" den Verwaltungsgerichten obliegt, die zur Prüfung der tatbestandlichen Voraussetzung einer "dringenden Gefahr" auf den für § 1666 BGB geltenden Maßstab zurückgreifen.[3] Danach muss eine Situation bestehen, die bei weiterer Entwicklung eine erhebliche Schädigung des körperlichen, geistigen oder seelischen Wohls des Kindes mit ziemlicher Sicherheit erwarten lässt[4] und sich zudem nach dem objektiv anzunehmenden Verlauf alsbald auswirken wird.[5] Die Gefahr muss gegenwärtig und durch konkrete Tatsachen belegt sein,[6] so dass eine lediglich latente Gefahr nicht ausreicht, um eine Inobhutnahme zu rechtfertigen. Zwar sind die Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts umso geringer, je folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist,[7] doch ist gleichzeitig zu beachten, dass nach der gesetzgeberischen Intention die Inobhutnahme ausdrücklich ausschließlich als "Krisenintervention in einer kurzfristigen pädagogischen Ausnahmesituation" ausgestaltet wurde.[8]

Hieraus folgt die Obliegenheit des Jugendamts, eine umfassende Einzelfallbewertung vorzunehmen, um auf dieser Grundlage nicht nur die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts angemessen bewerten zu können,[9] sondern letztlich auch nur solche Handlungen vorzunehmen, die dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen.[10] Jede vermeidbare Fehleinschätzung – etwa zu der Frage, ob eine familiengerichtliche Entscheidung rechtzeitig eingeholt werden kann, insbesondere wenn bereits ein Hauptsacheverfahren anhängig ist,[11] geht zu Lasten des Jugendamts, verbunden dann auch mit der Kostentragung für eine rechtswidrig durchgeführte Inobhutnahme.[12]

Befindet sich das Kind bereits bei einer im Sinne des SGB VIII als geeignet anzusehenden Person – insbesondere, wenn sie nach Mitteilung des Jugendamts sogar formal als Pflegeperson zu bestimmen wäre –, so ist die Inobhutnahme schon dem Grunde nach nicht gerechtfertigt.[13]

Nach der Entscheidungsbegründung des BVerfG wurden in dem zu beurteilenden Sachverhalt anlässlich eines seitens des Jugendamts bereits frühzeitig durchgeführten Hausbesuches keine Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung festgestellt. Erstmals mit einem Schreiben vom 30.5.2022 drohte gleichwohl das Jugendamt die Wegnahme der Kinder an, wobei nicht näher ersichtlich ist, auf welche tatsächlichen Umstände diese Ankündigung gestützt wurde, insbesondere auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass anlässlich eines weiteren Hausbesuches am 2.8.2022, der nun auch in Anwesenheit der Verfahrensbeiständin durchgeführt wurde, sogar die Versicherung erfolgte, dass nicht nur niemand die Absicht zur Herausnahme der Kinder habe, sondern sogar die Absicht bestehe, die Beschwerdeführerin zur Pflegemutter der Kinder zu machen, um dann genau zwei Tage später am 4.8.2022 ohne vorherige Ankündigung die Inobhutnahme zu vollziehen. Weitere Auskünfte zu dem Aufenthalt der Kinder wurden der Beschwerdeführerin mit der Begründung verweigert, dass sie keinerlei Rechte in Bezug auf die Kinder habe.

Überträgt man die vorab dargelegten Voraussetzungen der Inobhutnahme als Maßnahme, die zur Sicherung des Kindeswohls nur in einer "kurzfristigen pädagogischen Ausnahmesituation" zur Anwendung kommen kann, so bleibt allein die Feststellung, dass weder – nach eigenem Bekunden des Jugendamts – eine Kindeswohlgefährdung bestand noch von einer pädagogischen Ausnahmesituation ausgega...

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