Die familienrichterliche Pflicht, ein Kindesschutzverfahren von Amts wegen einzuleiten, bezieht sich nicht nur auf das Hauptsacheverfahren, sondern auch auf das Verfahren der einstweiligen Anordnung. Der Gesetzgeber hat dies in § 157 Abs. 3 FamFG zusätzlich verdeutlicht.
In der Praxis ist mitunter zu beobachten, dass – etwa auf eine Anregung des Jugendamts hin – der Familienrichter ausschließlich ein Verfahren der einstweiligen Anordnung einleitet, nicht aber zugleich auch ein Hauptsacheverfahren.
Zwar bedarf die einstweilige Anordnung nach ihrer Grundkonzeption nicht eines gleichzeitigen Hauptsacheverfahrens; der Gesetzgeber des FamFG wollte die notwendige Verbindung mit einem Hauptsacheverfahren vielmehr gerade auflösen (Wegfall der Akzessorietät) und einen hauptsacheunabhängigen einstweiligen Rechtsschutz einführen. Allerdings hat das Gericht in Amtsverfahren die Pflicht zu überprüfen, ob die Einleitung eines Hauptsacheverfahrens von Amts wegen erforderlich ist.
In Kindesschutzsachen dürfte jedoch in aller Regel ein Hauptsacheverfahren einzuleiten sein, weil – abgesehen etwa von punktuellen Eingriffen in die elterliche Sorge z.B. durch Ersetzung einer Erklärung des Inhabers der elterlichen Sorge nach § 1666 Abs. 3 Nr. 5 BGB – die in Betracht kommenden Maßnahmen gemäß den §§ 1666, 1666a BGB stets von gewisser Dauer sind. Ein Eingriff in die Eltern- und Kindesgrundrechte, der von gewisser Dauer ist, darf aber nicht – wie regelmäßig im Verfahren der einstweiligen Anordnung – auf bloß summarischer Tatsachengrundlage erfolgen.
Zwar kann das Gericht im Allgemeinen, um eine übereilte Aufnahme des Hauptsacheverfahrens zu vermeiden, gemäß § 52 Abs. 1 FamFG mit dem Erlass der einstweiligen Anordnung eine Frist von bis zu drei Monaten bestimmen, vor deren Ablauf ein Antrag auf Einleitung des Hauptsacheverfahrens unzulässig ist. Für den Bereich der Kindesschutzsachen ist jedoch aus den genannten verfassungsrechtlichen Gründen die vereinzelt vertretene Auffassung abzulehnen, eine solche Fristbestimmung komme insbesondere in den Verfahren nach §§ 1666, 1666a BGB in Betracht, wenn das Kind aus der Familie des sorgeberechtigten Elternteils bzw. der sorgeberechtigten Eltern genommen worden ist und zunächst eine gewisse Phase der Ruhe abgewartet werden soll, um zuverlässige Grundlagen für eine endgültige Entscheidung zu schaffen.
Während der im Verfahren der einstweiligen Anordnung erlassene Beschluss in der Beschwerdeinstanz anhängig ist, muss das anhängige Hauptsacheverfahren (vorrangig und beschleunigt) weiter durchgeführt werden. Ist ein Hauptsacheverfahren noch nicht anhängig, muss es von Amts wegen eingeleitet werden. Die anzutreffende Praxis, dass das Amtsgericht nach Beschwerdeeinlegung gegen die einstweilige Anordnung das Hauptsacheverfahren nicht betreibt (also faktisch aussetzt), um die Beschwerdeentscheidung im Verfahren der einstweiligen Anordnung abzuwarten, ist rechts- und verfassungswidrig. Diese "Testballon"-Praxis ist nicht mit Sinn und Zweck des Verfahrens der einstweiligen Anordnung zu vereinbaren und verstößt sowohl gegen die Bestimmung des § 155 Abs. 1 FamFG als auch gegen das verfassungsrechtliche Gebot, den Grundrechtsschutz durch Gestaltung des Verfahrens sicherzustellen. Denn durch diese Testballon-Praxis geht im Hauptsacheverfahren wichtige Zeit verloren; sie führt durch ein faktisches Nacheinanderschalten statt Nebeneinanderbetreiben von Anordnungs- und Hauptsacheverfahren letztlich dazu, dass entgegen den Vorstellungen des Gesetzgebers die einstweilige Anordnung nicht den Kinderschutz bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens sichert, sondern den Abschluss des Hauptsacheverfahrens erheblich verzögert. Es ist Aufgabe des Jugendamts (gehört zu seinem Schutzauftrag) und des Verfahrensbeistands (Wahrnehmung der Interessen des Kindes), dieser rechts- und verfassungswidrigen Praxis entgegenzuwirken.