Trotz der Präzisierungen und Klarstellungen verbleiben auch nach der Reform offene Fragen, die sich erst im Verlaufe der Zeit bei der praktischen Anwendung der neuen Normen beantworten lassen werden. Mit nicht wenigen Punkte wird sich dabei auch der EuGH befassen müssen.
Im Rahmen der Zuständigkeit ist insbesondere das Verhältnis zu Drittstaaten offen: Unter welchen Bedingungen kann sich ein nach der Brüssel-IIb-VO zuständiges Gericht zugunsten eines Gerichts in einem Drittstaat für unzuständig erklären? Und wie ist damit umzugehen, wenn ein Mitgliedstaat eine Entscheidung aus einem Drittstaat nach seinem nationalen Recht anerkennt, ein anderer Mitgliedstaat nach seinem Recht jedoch nicht, es hinsichtlich der der Anerkennung und Vollstreckung also zu unterschiedlichen Ergebnissen in den Mitgliedstaaten kommt?
Was das Erkenntnisverfahren betrifft, so steht das Recht des Kindes zur Meinungsäußerung und -berücksichtigung nach Art. 21 Brüssel-IIb-VO im Mittelpunkt. Die Anhörungsmodalitäten sind in der Norm nicht geregelt, was bedeutet, dass die Details der EuGH herauszuarbeiten haben wird, insbesondere in Bezug auf die Altersgrenzen und die Fallkonstellationen, in denen ausnahmsweise von einer Anhörung des Kindes abgesehen werden kann. Es liegt nahe, dass die Gerichte in der ersten Zeit die Frage, ab wann einem Kind die erforderliche Meinungsäußerungsfähigkeit zukommt, unterschiedlich und im Sinne ihrer bisher geltenden nationalen Verfahrensbestimmungen beantworten werden. Auch wer das Kind anhört – das Gericht oder ein*e Sachverständige*r – und wo die Anhörung zu erfolgen hat – im Gericht oder an einem anderen Ort, zwingend in Person oder möglicherweise über Telekommunikationsmittel – ist noch zu klären.
Bei der Vollstreckung bleibt abzuwarten, ob und wie manche Mitgliedstaaten den Wegfall des Vollstreckbarerklärungsverfahrens durch großzügigen Umgang mit den Aussetzungs- und Einstellungsgründen in Art. 56 und Art. 57 Brüssel-IIb-VO ausgleichen werden, etwa durch eine unterschiedliche Beantwortung der Frage, zu welchem Zeitpunkt die neuen Umstände, aufgrund derer die Vollstreckung aus Kindeswohlgründen ausgesetzt werden kann, aufgetreten sein müssen. Daneben sind taktische Verfahrensverzögerungen durch die Vollstreckungsgerichte mittels wiederholter Kindeswohlprüfungen nicht ausgeschlossen. Auch hier wird der EuGH klare Rechtsprechungslinien zu entwickeln haben.