I. Einleitung
Wenn sich Eltern streiten, sind Kinder meist die Hauptleidtragenden. Aufgabe der Familiengerichte ist es, die Konflikte zwischen den Eltern in Bezug auf das Kind rechtlich zu erfassen, die gegenläufigen Interessen auszugleichen und eine Lösung zu finden, die im größtmöglichen Umfang die Belange des Kindes schützt. Die Herausforderungen dieser bereits für sich genommen anspruchsvollen Aufgabe steigen noch weiter, wenn es sich um internationale Familienbeziehungen handelt und die Streitigkeiten nationale Grenzen überschreiten. Bei solchen grenzüberschreitenden Sachverhalten werden sowohl nationale als auch völkerrechtliche als auch supranationale Rechtsvorschriften relevant, die wie auch die Verfahrensbeteiligten miteinander in Konflikt stehen oder sich gegenseitig unterstützen können.
Am 1.8.2022 ist die bereits im Jahr 2019 verabschiedete Verordnung über die Zuständigkeit, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und über internationale Kindesentführung VO 2019/1111 (Brüssel-IIb-VO) in Kraft getreten. Nach ihrem Art. 100 Abs. 1 gilt die Brüssel-IIb-VO für alle ab dem 1.8.2022 eingeleiteten Verfahren. Wenn die Einleitung des Verfahrens vor diesem Datum stattfand, kommt noch die Vorgängerverordnung Nr. 2201/2003 vom 27.11.2003 (Brüssel-IIa-VO) zur Anwendung. Wie die Brüssel-IIa-VO gilt die Brüssel-IIb-VO in allen Mitgliedstaaten mit Ausnahme Dänemarks. Sie ist eine unmittelbar wirkende Norm des Unionsrechts, die keiner besonderen Umsetzung durch den deutschen Gesetzgeber bedarf und in ihrem Anwendungsbereich das nationale Recht verdrängt. Sie ersetzt letztlich nationales Prozessrecht, das lediglich entsprechende Durchführungsvorschriften bereithält. In Deutschland sind diese Durchführungsvorschriften im Internationalen Familienrechtsverfahrensgesetz (IntFamRVG) geregelt.
Die wesentliche Ausrichtung der Verordnung, nämlich die Erleichterung des freien Verkehrs von Entscheidungen und öffentlichen Urkunden durch einheitliche Regelungen, ist unverändert. Bei den Neuerungen im Bereich der elterlichen Verantwortung, auf die sich dieser Beitrag konzentrieren soll, war erklärtes Anliegen der Reform die Stärkung des Kindeswohls und der Interessen des Kindes durch Vereinfachung und Effizienzsteigerung der Verfahren. Insgesamt wird der Begriff des Kindeswohls 29 Mal in der gesamten Brüssel-IIb-VO verwendet, anstatt sechs Mal in der Brüssel-IIa-VO, und es wird 16 Mal von "Schutz des Kindes" gesprochen, statt sieben Mal in der Vorgängerversion. Inhaltlich soll die Optimierung der Rechtsstellung des Kindes, die dieser Betrag in den Blick nimmt, vor allem durch Klarstellungen und Präzisierungen erfolgen.
II. Wichtige Neuerungen zur Stärkung des Kindeswohls im Erkenntnisverfahren
1. Begriffsbestimmung
Mit dem Ziel der größeren Rechtsklarheit und Rechtssicherheit im Interesse des Kindes bestimmt einleitend Art. 2 Abs. 2 Nr. 6 Brüssel-IIb-VO, dass Kinder im Sinne der Verordnung alle Personen unter 18 Jahren sind. Der herrschenden Ansicht zur Brüssel-IIa-VO, dass sich der Begriff des Kindes nach dem maßgeblichen Personalstatut bestimme, wurde durch diese autonome unionsrechtliche Begriffsbestimmung eine Absage erteilt. Hierdurch sollen Überschneidungen und Lücken in Bezug auf andere möglicherweise einschlägige Rechtsinstrumente wie dem Haager Adoptions- sowie dem Haager Kinderschutzübereinkommen und dem Übereinkommen über den internationalen Schutz von Erwachsenen vermieden oder zumindest reduziert werden. Problematisch ist, dass in einigen Staaten außerhalb der EU die Volljährigkeit erst später als mit dem 18. Geburtstag eintritt. Insofern wäre ein verbindender Ansatz vorzugswürdiger gewesen, wonach Kind im Sinne der Verordnung jede Person unter 18 Jahren ist sowie jede Person, die nach dem anwendbaren materiellen Recht minderjährig ist. Denn die Geschäftsfähigkeit, also Volljährigkeit einer Person bestimmt sich gem. Art. 7 Abs. 1 S. 1 EGBGB nach ihrer Staatsangehörigkeit. Die Neuregelung in der Brüssel-IIb-VO, die für die Anwendbarkeit der Verordnung stets und ohne Ausnahme eine Person unter 18 Jahren vorsieht, hat nun zur Folge, dass ab dem 18. Geburtstag eines Kindes aus einem Staat, der einen späten Volljährigkeitseintritt kennt und das Kind also noch unter elterlicher Verantwortung steht, – auch im laufenden Verfahren – plötzlich das nationale Zuständigkeitsrecht anwendbar ist. Eine Anknüpfung sowohl an den 18. Geburtstag als auch an die Volljährigkeit nach dem Personalstatut des Kindes hätte zur Folge gehabt, dass die Verordnung immer dann ...