Im Fall einer Kindesentführung, also des Verbringens oder Zurückhaltens eines Kindes, durch das ein nach dem Recht des Herkunftsstaates bestehendes und tatsächlich ausgeübtes Sorgerecht verletzt wird (Art. 2 Abs. 2 Nr. 11 Brüssel-IIb-VO), kann es, wenn sowohl Herkunfts- als auch Zielstaat Mitgliedstaaten des Übereinkommens sind, zur Normkonkurrenz zwischen der Brüssel-IIb-VO und dem Haager Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung vom 25.10.1980 (HKÜ) kommen. Dabei modifiziert die Brüssel-IIb-VO das HKÜ nicht, sondern schafft einheitliche Regelungen zur Zuständigkeit, Anerkennung und Vollstreckung, die die Erreichung der Ziele des HKÜ unterstützen. Die Brüssel-IIb-VO stellt letztlich eine Maßnahme zur Verwirklichung der Ziele des HKÜ im Sinne von Art. 2 HKÜ dar.
Die die internationale Kindesentführung betreffenden Neuerungen der Brüssel-IIb-VO in Art. 22 bis Art. 29 Brüssel-IIb-VO zielen vor allem darauf ab, die Rückgabeverfahren nach dem HKÜ im Interesse des Kindes schneller und effizienter zu gestalten, insbesondere auch, um Belastungen des Kindes durch Verzögerungen und Unsicherheiten zu verringern. Hierfür wird eine Bearbeitung "mit gebotener Eile" (Art. 23 Brüssel-IIb-VO) und die Anwendung der "zügigsten im nationalen Recht vorgesehenen Verfahren" (Art. 24 Brüssel-IIb-VO) gefordert. Um die Durchsetzung der Entscheidung zu beschleunigen, kann sie trotz der Einlegung eines Rechtsbehelfs für vorläufig vollstreckbar erklärt werden, wenn dies aus Gründen des Kindeswohls erforderlich ist (Art. 27 Abs. 6 Brüssel-IIb-VO). Gem. Art. 26 Brüssel-IIb-VO gilt die Pflicht zur Anhörung des Kindes und zur Berücksichtigung dessen Äußerung aus Art. 21 Brüssel-IIb-VO auch für Kindesrückgabeverfahren nach dem HKÜ.
Dass die Brüssel-IIb-VO in Art. 22 das Verhältnis zum HKÜ klarstellt und die die internationale Kindesentführung betreffenden Vorschriften in einem eigenen Kapitel systematisiert, erleichtert sicherlich die Anwendung der beiden ineinandergreifenden Regelungskomplexe in der Praxis und sorgt für mehr Klarheit und Vorhersehbarkeit für die Betroffenen. Ob dadurch die Ziele, namentlich die Effizienz der Verfahren über die sofortige Rückgabe des Kindes nach dem HKÜ zu steigern, um dadurch das Kindeswohl wirksamer zu schützen, tatsächlich spürbar gefördert werden, bleibt abzuwarten.