1. Bis 1976: Verschulden und Billigkeit als Anspruchsgründe
Die Charts – sie gibt es im Übrigen nur im Plural – lasse ich im Jahre 1976 einsetzen, am Vorabend der großen Reform des Scheidungsrechts durch das 1. EheRG. Damals war der Scheidungsunterhalt noch in dem aus dem Jahre 1938 stammenden Ehegesetz geregelt und nach Geschlecht und Verschulden unterschiedlich sortiert.
Unterhaltspflichtig war vor allem der allein oder überwiegend als schuldig geschiedene Mann, und zwar nach dem Maß der "Lebensverhältnisse der Ehegatten" – das war eindeutig eine Art Schadensersatz. Die allein oder überwiegend schuldige Frau hatte dem Mann, der sich nicht selbst unterhalten konnte, "angemessenen Unterhalt" zu leisten. Bei beiderseitigem etwa gleichem Verschulden richtete sich die Unterhaltspflicht nach Billigkeit. Die Rangverhältnisse waren nicht klar geregelt, folglich streitig, insbesondere das Verhältnis zum neuen Ehegatten des Pflichtigen. Das alte Recht gab der unschuldig geschiedenen Frau fast alles, der schuldig geschiedenen allerdings nichts. Davon abgesehen lag das Meiste in der Grauzone der Billigkeit – einem Begriff, dem eine große Karriere im Unterhaltsrecht bevorstehen sollte.
Wenn wir unsere Charts aus der Sicht des unterhaltsuchenden Teils anlegen, also nach den Chancen, zu einem Unterhaltsanspruch zu gelangen, so können wir bei einem Raster von 100 bei gefühlten 60 Punkten einsetzen. Das ist der Ausgangswert für eine dramatische Chartentwicklung.
2. 1977: Die Hausse durch das 1. EheRG; das Altersphasenmodell
Mit dem 1. Eherechtsreformgesetz, in Kraft getreten zum 1.7.1977, springt die Chance für nachehelichen Unterhalt auf eine bisher nicht gekannte Ebene. Was war der rechtspolitische Hintergrund? Der Übergang von einem Mischsystem aus Verschuldens- und Zerrüttungsscheidung zu einer reinen Zerrüttungsscheidung bedeutete einen Umsturz des bisherigen Eheverständnisses, bei dem nicht allen wohl war. Die konkrete politische Situation sah eine rot-gelbe Koalition an der Regierung, während im Bundesrat die CDU/CSU geführten Länder die Mehrheit hatten. Da die Scheidungsreform partiell der Zustimmung des Bundesrates bedurfte, drohte die Reform ohne eine Einigung zwischen den politischen Blöcken zu scheitern.
Die Verabschiedung des Verschuldens als Normelement auch im Scheidungsfolgenrecht ließ gewisse Befürchtungen aufkommen. Zwei Szenarien belebten die Fantasie:
Szenario 1: Der ökonomisch überlegene Ehemann orientiert sich erotisch neu und verstößt die Ehefrau, die bisher mit seinem Einverständnis den Haushalt geführt und überwiegend die Kinder betreut hat und die nun – nach ihrer Entfernung aus der Ehe – dem sozialen Abstieg anheim zu fallen droht (Stichwort: die verstoßene Hausfrau und Mutter).
Szenario 2: Die Ehefrau ist des vom beruflichen Alltag zermürbten Gatten überdrüssig und verlässt, vielleicht wegen eines neuen Lovers, mit oder ohne die Kinder, den heimischen Herd, betreibt die Scheidung und lässt das alles qua Unterhalt, Zugewinn- und Versorgungsausgleich vom Ex-Ehemann dauerhaft finanzieren.
So führte der (im September 2011 verstorbene) CDU-Abgeordnete Prof. Dr. Paul Mikat aus:
Zitat
"Unser künftiges Scheidungsrecht sollte auf jeden Fall dem Rechtsgrundsatz Geltung verschaffen, dass niemand aus eigenen Rechtsverletzungen für sich günstige Rechtsfolgen herleiten kann."
Diese beiden Ängste muss man vor Augen haben, um das Reformgesetz zu verstehen. Allerdings überwog in der entscheidenden Phase der Gesetzgebung die Sorge um die verstoßene Hausfrau. Das erklärt manche Akzentverschiebungen zugunsten der potenziell Unterhaltsberechtigten, die zwischen dem Diskussionsentwurf des Justizministeriums von 1970 und dem Regierungsentwurf von 1973 zu verzeichnen sind.
Obwohl die Opposition eine noch weitergehende Regelung gefordert hatte, nämlich die grundsätzliche Festlegung einer nachehelichen Unterhaltspflicht bei Bedürftigkeit des anderen Teils, konnte sie mit dem, was der Regierungsentwurf und ihm folgend das Gesetz bot, durchaus zufrieden sein: Der nacheheliche Unterhalt wurde zwar auf bestimmte Tatbestände beschränkt, deren aber so viele waren (und noch heute sind), dass von einem "Meer von Unterhaltsansprüchen" die Rede war. Dazu kam die Orientierung jeglichen Scheidungsunterhalts an den ehelichen Lebensverhältnissen (§ 1578 Abs. 1 BGB) und der grundsätzliche Vorrang des Unterhalts der geschiedenen Ehefrau vor dem ihrer Nachfolgerin (§ 1582 BGB). Dem Szenario 2 tr...