Wahr ist eine Aussage dann, wenn ihr Inhalt mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Die Pflicht zu wahrheitsgemäßen Erklärungen, wie sie den Parteien eines gerichtlichen Verfahrens auferlegt wird, ist aber nicht im Sinne dieser objektiven Wahrheit zu verstehen. Da die Parteien oftmals nur ihre Wahrnehmung der Wirklichkeit wiedergeben können, würde ihnen andernfalls etwas abverlangt, was sie oftmals nicht erbringen können. Daraus ergibt sich Folgendes:
Ein Verstoß gegen die Wahrheitspflicht ist stets gegeben, wenn die Partei eine (behauptende oder bestreitende) Erklärung wider besseres Wissen abgibt. Beispiel: Sie behauptet, Unterhalt geleistet zu haben, obwohl sie weiß, dass sie die Zahlung vor Monaten eingestellt hat.
Dasselbe ist anzunehmen, wenn sie eine Tatsache behauptet oder leugnet, ohne sich vorher in zumutbarer Weise davon überzeugt zu haben, ob diese Erklärung der Wahrheit entspricht. Beispiel: Sie behauptet, keine Zahlung erhalten zu haben, ohne zuvor ihre Kontoauszüge, aus denen sich das Gegenteil ergibt, zu prüfen.
Rückschlüsse, die eine Partei aus eigenen Wahrnehmungen oder Aussagen Dritter zieht, darf sie in das Verfahren einführen, wenn sie nicht von deren Unrichtigkeit überzeugt ist. Berichtet das Kind z.B. von schädlichen Einflüssen beim Umgang mit dem geschiedenen Elternteil, darf dies im Kindschaftsverfahren vorgetragen werden, es sei denn der Vortragende erkennt, dass die Angaben nicht zutreffen können.
Erst recht gilt dies, wenn nach der gesetzlichen Regelung Umstände vorzutragen sind, die einer sinnlichen Wahrnehmung gar nicht zugänglich sind wie z.B. ein Kausalzusammenhang oder eine subjektive Gegebenheit bei einem anderen Menschen (Wissen, Absicht, Vorsatz u.Ä.) oder wenn ihre gesicherte Feststellung nur einem besonders Sachkundigen möglich ist.
Behauptungen des Gegners dürfen auch bestritten werden, wenn die Partei nicht weiß, ob sie wahr oder unwahr sind. Im Zivilprozess folgt dies schon aus § 138 Abs. 3, 4 ZPO, wonach die Tatsache als zugestanden anzusehen ist, wenn sie nicht (ggf. mit Nichtwissen) bestritten wird; im Geltungsbereich des Untersuchungsgrundsatzes ist dies letztlich irrelevant.
Selbst ein geänderter oder hilfsweise getätigter Tatsachenvortrag verstößt nach Vorstehendem nicht gegen die Wahrheitspflicht, solange die Partei nicht von der Unrichtigkeit einer der Varianten überzeugt ist. Sie kann sich laut BGH sogar für den Fall der Nichterweislichkeit ihres Hauptvorbringens den Vortrag des Gegners hilfsweise zu eigen machen – eine (allerdings fragwürdige) Konsequenz der Verhandlungsmaxime, mit der verhindert werden soll, dass das Gericht gleichzeitig das Hauptvorbringen als nicht erwiesen behandelt, andererseits aber doch als der Wirklichkeit entsprechend ansieht, indem es das Hilfsvorbringen des Klägers wegen Verstoßens gegen die Wahrheitspflicht unbeachtet lässt.
Nach einer vom BGH ständig gebrauchten Formel darf die Partei Tatsachen behaupten, über die sie keine positive Kenntnis hat und im Regelfall auch nicht haben kann, die sie aber nach Lage der Dinge für wahrscheinlich und möglich hält. Ein Verstoß gegen die Wahrheitspflicht liege erst dann vor, wenn die Partei nach Überzeugung des Gerichts selbst nicht an die Richtigkeit der Behauptung glaubt ("bewusste Lüge"), ebenso wenn sie eine willkürliche, ohne greifbare Anhaltspunkte ausgesprochene Behauptung "ins Blaue hinein" aufstellt. Letzteres soll allerdings in Verfahren mit Amtsermittlungspflicht nicht gelten, weil dort auch solche Behauptungen Anknüpfungspunkte für die Ermittlungen ergeben können.
Maßstab ist in jedem Fall nicht die objektive Wahrheit, sondern die subjektive Wahrhaftigkeit. Dass dies gewisse Spielräume für prozesstaktisch gefärbten oder vernebelten Tatsachenvortrag eröffnet, liegt auf der Hand. Die Rechtsprechung kapituliert hier vor der Lebenswirklichkeit und überlässt es der zweiten Stufe der Sachverhaltsfeststellung, der beweiswürdigenden Entscheidung des Richters, ob er die Behauptung unter Berücksichtigung des gesamten Verfahrensergebnisses nach freier Überzeugung als wahr erachtet.
Unbefriedigende Folge dieser Großzügigkeit im Umgang mit der Wahrheit ist, dass die Gerichte vornehmlich mit der Aufklärung des Sachverhalts statt mit der Rechtsanwendung beschäftigt sind, was erhebliche Verfahrensdauern und oftmals resignative Beweislastentscheidungen zur Folge hat.