1. Geschichtlicher Hintergrund
Bereits die Verfahrensrechte des römischen, kanonischen und germanischen Rechtskreises kannten eine prozessuale Wahrheitspflicht. Verbreitet war der sog. Kalumnieneid, mit dem die Parteien schwören mussten, nicht aus Schikane oder Mutwillen, sondern im Glauben an die Richtigkeit ihres Vorbringens zu prozessieren. Die Reichs-Civilprozessordnung von 1877 enthielt jedoch keine Vorschrift über die Wahrheitspflicht – warum, ist den Materialien nicht zu entnehmen. Möglicherweise hielt man sie für selbstverständlich, möglicherweise stand hinter dem Schweigen des Gesetzes aber auch der später vehement ausgetragene Streit zwischen Richterschaft und Anwaltschaft über den Stellenwert der Wahrheit im Prozess: Während die Richter eine gesetzliche Normierung der Wahrheitspflicht forderten, fürchteten die Anwälte die richterliche Kontrolle einer mandantenorientierten Prozessführung. Die Kontroverse führte dazu, dass eine entsprechende Regelung aus dem Entwurf einer ZPO-Novelle 1909 wieder entfernt wurde. Mit dem erklärten Ziel, die Irreführung des Gerichts durch Unwahrheiten zu verhindern, fand dann mit der Novelle 1933 die bis heute geltende Fassung des § 138 Abs. 1 ZPO doch noch Eingang ins Gesetz, allerdings ohne Sanktionen für die Verletzung der Wahrheitspflicht zu regeln.
2. Umfasste Erklärungen
Die Wahrheitspflicht gilt für alle Erklärungen der Parteien bzw. Beteiligten zum entscheidungserheblichen Sachverhalt, also sowohl für das Behaupten von tatsächlichen Umständen als auch für das Bestreiten solcher Behauptungen. Pauschales Bestreiten (z.B. "Alles nicht ausdrücklich Zugestandene wird bestritten") ist daher nicht nur sinnlos, sondern kann u.U. Konsequenzen als Verletzung der Wahrheitspflicht haben (dazu unten II.).
Im Geltungsbereich des Untersuchungsgrundsatzes (§§ 26, 127 FamFG) gilt die Wahrheitspflicht nicht nur für gerichtlich angeordnete, sondern auch für freiwillige Sachverhaltsschilderungen. In Unterhaltssachen umfasst sie auch die gerichtlich angeordnete Auskunftspflicht nach § 235 FamFG; hier kann sogar eine schriftliche Versicherung der Wahrheit verlangt werden (§ 235 Abs. 1 S. 2 FamFG).
Auch auf Nebenverfahren, z.B. zur Bewilligung von Prozess- oder Verfahrenskostenhilfe sowie auf das Kostenfestsetzungs- und Zwangsvollstreckungsverfahren, erstreckt sich die Wahrheitspflicht.
Sie verbietet auch das Verschweigen von entscheidungserheblichen Tatsachen. § 138 Abs. 1 ZPO, § 27 Abs. 2 und § 235 Abs. 1 S. 2 FamFG stellen dies ausdrücklich klar, indem sie die Parteien auch zu vollständigen Erklärungen verpflichten.
Im Geltungsbereich des Verhandlungsgrundsatzes folgt der Umfang dieser Erklärungspflicht aus den Regeln der Darlegungslast; wo das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen aufzuklären hat, muss zu allen Tatsachen, die das Gericht für entscheidungserheblich hält, umfassend vorgetragen werden. Das Gericht darf nicht mit "Halbwahrheiten" bedient werden.
Wer z.B. einen Unterhaltsanspruch geltend macht, darf nichts verschweigen, was seine Unterhaltsbedürftigkeit infrage stellen könnte, denn diese gehört zu den anspruchsbegründenden und damit von ihm darzulegenden Umständen. Dagegen ist die klagende Partei grundsätzlich nicht verpflichtet, möglicherweise rechtshindernde oder -vernichtende Umstände von sich aus vorzutragen, denn diese fallen unter die Darlegungslast des Beklagten. Lediglich wenn ihr bewusst ist, dass die geltend gemachte Forderung nicht (mehr) besteht, ist ein Verstoß gegen die Pflicht zum wahrheitsgemäßen und vollständigen Vortrag anzunehmen, also z.B. wenn sie eine tatsächlich erhaltene Unterhaltsleistung noch einmal einklagt.
Entsprechend verhält es sich mit der Erklärungslast des Beklagten. Er kann die seines Erachtens unwahren Behauptungen des Klägers bestreiten, muss aber grundsätzlich nicht die Informationen geben, die dem Kläger eine nähere Darlegung und Beweisführung ermöglichen. Solche darf er verschweigen. Eine Ausnahme hiervon, nämlich eine Pflicht zu substanziiertem Bestreiten, besteht nach der Rechtsprechung aber dann, wenn die darlegungspflichtige Partei außerhalb des von ihr darzulegenden Geschehensablaufs steht und keine Kenntnis der maßgeblichen Tatsachen besitzt, während der Prozessgegner sie hat und ihm nähere Angaben zumutbar sind (sog. sekundäre Darlegungslast). So ist z.B. für die Begrenzung des Unterhaltsanspruchs durch das Fehlen ehebedingter Nachteile (§ 1578b Abs. 1 S. 2 BGB) an sich der Unterhaltspflichtige darlegungspflichtig; den Bedürftigen trifft jedoch die sekundäre Darlegungslast, dass er solche erlitten hat. Hat im Verfahren auf Zugewinnausgleic...