1. Psychologische Erkenntnisse

Aus der Adoptionsforschung und den Erfahrungen mit Findelkindern ist schon seit langem bekannt, dass das Bewusstsein der eigenen genetischen Wurzeln für das Identitätsgefühl und die Individualitätsfindung des jeweiligen Menschen von großer Bedeutung sein kann.[1] Die biologische Abstammung legt nicht nur die genetische Ausstattung des einzelnen Menschen fest, sondern ist auch und vor allem für das Selbstverständnis der jeweiligen Person und für ihr Individualitätsbewusstsein ausschlaggebend. Dementsprechend spielt nicht nur die Kenntnis der abstrakten DNA-Beschaffenheit des biologischen Elternteils eine Rolle, vielmehr geht es um die Person des Elternteils selbst. Diese Erfahrungen werden in der Forschung zu den sog. "Spenderkindern" bestätigt.[2]

Die Einsicht und Überzeugung, dass die Kenntnis der eigenen Abstammung für den einzelnen Menschen von außerordentlicher Wichtigkeit sein kann, hat dazu geführt, dass im deutschen Recht und auf internationaler Ebene ein Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung diskutiert wird. Sowohl die grundsätzliche Akzeptanz als auch Gegenstand, Umfang und Grenzen eines solchen Rechts werden allerdings weltweit keineswegs einheitlich gesehen, wenngleich eine deutliche Entwicklung zu einer größeren Fokussierung auf dieses Thema erkennbar ist. Dies ist sicherlich zurückzuführen auf (1) die größere Offenheit gegenüber einer Kindeszeugung außerhalb der Ehe, (2) die zunehmenden Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin und ihre Akzeptanz sowie schließlich (3) eine wachsende Bereitschaft, die Interessen und Bedürfnisse eines Kindes, auch des erwachsenen Kindes in den Fokus zu stellen.

[1] C. Hoffmann-Riem, Das adoptierte Kind, S. 245; Knobbe, Psychologische Aspekte der Adoption, FPR 2001, 309, 316; zurückhaltend ("kein anwendbarer Erkenntnisbeitrag über eigene Naturanlagen") allerdings Hassenstein, FamRZ 1988, 120, 123.
[2] Klotz, Genetic Knowledge and Family Identity: Managing Gamete Donation in Britain and Germany, 47 Sociology 2013, 939–956; Turner/Coyle, What does it mean to be a donor offspring? 15 Human Reproduction 2000, 2041, 2045; Merrick, Donor Conception in the UK, in: Hammel/Thorn, Spendersamenbehandlung in Deutschland – Alles was Recht ist?, 2015, S. 93, 96; P. Thorn, Familienbildung mit Spendersamen, in: Coester-Waltjen/Lipp/Schumann/Veit, "Kinderwunschmedizin" – Reformbedarf im Abstammungsrecht, 13. Göttinger Workshop zum Familienrecht, 2014, 131, 132 ff.; Burkart, Gesellschaftlicher Wandel und Legitimität der Vaterschaft, in Röthel/Heiderhoff, Regelungsanliegen: Vaterstellung, 2014, 73, 75.

2. Mögliche rechtliche Verankerung

Zunächst zu einer möglichen rechtlichen Verankerung eines solchen Rechts. Im deutschen Recht wurde trotz eines gewissen Haut Gout, der einer Betonung der biologischen Abstammung seit der unseligen Nazizeit wegen der damaligen sog. "rassenkundlichen" Untersuchungen anhaftet,[3] ein solches Recht von der verfassungsrechtlichen Literatur schon früh in Art. 1 GG – Würde des Menschen – oder in Art. 2 GG – allgemeines Persönlichkeitsrecht – verankert.[4] Die Unterscheidung zwischen einer Herleitung aus Art. 1 GG oder aus Art. 2 GG ist durchaus folgenreich: Gehört es zur Würde eines jeden Menschen (Art. 1 GG), einen Anspruch auf Kenntnis der eigenen Abstammung zu haben,[5] dann darf dieses Recht – jedenfalls nach herrschender verfassungsrechtlicher Meinung[6] – nicht eingeschränkt werden, ist also ein absolutes Recht. Ist es hingegen Teil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 GG), dann kann es seine Grenze an der verfassungsmäßigen Ordnung, dem Sittengesetz und den Rechten anderer finden.

Eine rechtliche Verankerung kann man auch in Art. 7 UN-Kinderrechtskonvention sehen, der vorsieht:

Zitat

"Das Kind … hat … soweit möglich das Recht, seine Eltern zu kennen und von ihnen betreut zu werden."

Schließlich ist Art. 8 EMRK von Bedeutung, der jeder Person einen Anspruch auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens garantiert.

Im Folgenden wird ein kurzer Blick darauf geworfen, ob diese verfassungs- und menschenrechtlichen Regelungen grundsätzlich zur Herleitung eines Rechts auf Kenntnis der eigenen Abstammung in der Rechtsprechung herangezogen werden, um dann anschließend Gegenstand, Umfang und Grenzen eines solchen Rechts zu diskutieren.

[3] S. dazu u.a. Helms, Die Feststellung der biologischen Abstammung, 1999, S. 39 ff.; Frank, Recht auf Kenntnis der genetischen Abstammung? FamRZ 1988, 113; krit. auch die französische Reaktion auf die Entwicklung nach 1945: Labrusse-Riou, L'anonymat du donneur, in: Le droit, la médicine et l'être humain, 1996, S. 89.
[4] Dürig, in: Maunz/Dürig, Art. 1 GG, Rn 39 (Stand 1958); jetzt anders (Mai 1999): Herdegen, in: Maunz/Dürig, Art. 1 Rn 110; von Mangold/Klein/Starck, GG, 6. Aufl., 2010, Art. 1 Rn 88; Starck, Gutachten zum 56. DJT 1986, A23; Giesen, FamRZ 1981, 413, 416 und JZ 1989, 364, 365; Mansees, Jeder Mensch hat ein Recht auf Kenntnis seiner genetischen Herkunft, NJW 1988, 2984; Kleineke, Das Recht des Kindes auf Kenntnis der eigenen Abstammung, 1976, S. 12 ff....

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?