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Die folgenden Ausführungen sind in drei unterschiedlich große Abschnitte eingeteilt: Im ersten und umfangreichsten Teil geht es um das Recht des Kindes auf Kenntnis der eigenen Abstammung. Das Recht auf Kenntnis der Abstammung besteht aber möglicherweise nicht nur aus Sicht des Kindes, sondern es gibt eventuell auch ein Recht auf Kenntnis des eigenen Nachwuchses. Dieser Thematik ist ein kurzer zweiter Teil gewidmet. Schließlich ist zu diskutieren, ob es – wenn man den Titel des Vortrags ohne den Klammerzusatz liest – ein Recht auf Abstammung gibt, d.h. ein Recht auf die rechtliche Zuordnung entsprechend den biologischen Verbindungen.
I. Das Recht des Kindes auf Kenntnis der eigenen Abstammung
1. Psychologische Erkenntnisse
Aus der Adoptionsforschung und den Erfahrungen mit Findelkindern ist schon seit langem bekannt, dass das Bewusstsein der eigenen genetischen Wurzeln für das Identitätsgefühl und die Individualitätsfindung des jeweiligen Menschen von großer Bedeutung sein kann. Die biologische Abstammung legt nicht nur die genetische Ausstattung des einzelnen Menschen fest, sondern ist auch und vor allem für das Selbstverständnis der jeweiligen Person und für ihr Individualitätsbewusstsein ausschlaggebend. Dementsprechend spielt nicht nur die Kenntnis der abstrakten DNA-Beschaffenheit des biologischen Elternteils eine Rolle, vielmehr geht es um die Person des Elternteils selbst. Diese Erfahrungen werden in der Forschung zu den sog. "Spenderkindern" bestätigt.
Die Einsicht und Überzeugung, dass die Kenntnis der eigenen Abstammung für den einzelnen Menschen von außerordentlicher Wichtigkeit sein kann, hat dazu geführt, dass im deutschen Recht und auf internationaler Ebene ein Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung diskutiert wird. Sowohl die grundsätzliche Akzeptanz als auch Gegenstand, Umfang und Grenzen eines solchen Rechts werden allerdings weltweit keineswegs einheitlich gesehen, wenngleich eine deutliche Entwicklung zu einer größeren Fokussierung auf dieses Thema erkennbar ist. Dies ist sicherlich zurückzuführen auf (1) die größere Offenheit gegenüber einer Kindeszeugung außerhalb der Ehe, (2) die zunehmenden Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin und ihre Akzeptanz sowie schließlich (3) eine wachsende Bereitschaft, die Interessen und Bedürfnisse eines Kindes, auch des erwachsenen Kindes in den Fokus zu stellen.
2. Mögliche rechtliche Verankerung
Zunächst zu einer möglichen rechtlichen Verankerung eines solchen Rechts. Im deutschen Recht wurde trotz eines gewissen Haut Gout, der einer Betonung der biologischen Abstammung seit der unseligen Nazizeit wegen der damaligen sog. "rassenkundlichen" Untersuchungen anhaftet, ein solches Recht von der verfassungsrechtlichen Literatur schon früh in Art. 1 GG – Würde des Menschen – oder in Art. 2 GG – allgemeines Persönlichkeitsrecht – verankert. Die Unterscheidung zwischen einer Herleitung aus Art. 1 GG oder aus Art. 2 GG ist durchaus folgenreich: Gehört es zur Würde eines jeden Menschen (Art. 1 GG), einen Anspruch auf Kenntnis der eigenen Abstammung zu haben, dann darf dieses Recht – jedenfalls nach herrschender verfassungsrechtlicher Meinung – nicht eingeschränkt werden, ist also ein absolutes Recht. Ist es hingegen Teil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 GG), dann kann es seine Grenze an der verfassungsmäßigen Ordnung, dem Sittengesetz und den Rechten anderer finden.
Eine rechtliche Verankerung kann man auch in Art. 7 UN-Kinderrechtskonvention sehen, der vorsieht:
Zitat
"Das Kind … hat … soweit möglich das Recht, seine Eltern zu kennen und von ihnen betreut zu werden."
Schließlich ist Art. 8 EMRK von Bedeutung, der jeder Person einen Anspruch auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens garantiert.
Im Folgenden wird ein kurzer Blick darauf geworfen, ob diese verfassungs- und menschenrechtlichen Regelungen grundsätzlich zur Herleitung eines Rechts auf Kenntnis der eigenen Abstammung in der Rechtsprechung herangezogen werden, um dann anschließend Gegenstand, Umfang und Grenzen eines solchen Rechts zu diskutieren.