Zum Schrecken der Kinder und Enkel erzählen Großväter gerne von früher. Ihre ganz alten Geschichten beginnen dabei mit "es war einmal":
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"Es war einmal ein steinalter Mann, dem waren die Augen trüb geworden, die Ohren taub, und die Knie zitterten ihm. Wenn er nun bei Tische saß und den Löffel kaum halten konnte, schüttete er Suppe auf das Tischtuch und es floss ihm auch etwas wieder aus dem Mund."
Sohn und Schwiegertochter ekelten sich vor dem Anblick. Sie verbannten den alten Mann eines Tages auf einen Platz hinter dem Ofen. Dort er musste seine Suppe aus einem Holznapf löffeln. Das Altenteil war zu jener Zeit wahrlich kein einladender Ort. Jetzt kommt der vierjährige Enkel ins Spiel. Dieser trägt kleine Holzbrettchen zusammen. Auf die Frage der Eltern "Was tust du da?" antwortet er: "Ich mache ein Tröglein aus dem ihr essen sollt, wenn ich groß bin." Beschämt durch diese Antwort holten die Eltern den Großvater zurück an den Tisch und alles war wieder gut – jedenfalls in diesem Märchen der Gebrüder Grimm.
Der halbwüchsigen Jugend erscheinen Oma und Opa hingegen ein wenig wie aus der Zeit gefallen. Sie gelten als "etwas taprig, und etwas blöde, etwas kindisch und etwas verrückt". So werden sie zum Objekt des Spottes oder lausbübischer Streiche. "90 Jahr der Kinder Spot" heißt es in einem jahrhundertealten Reim.
Und so begann Robert Gernhardt seine dichterische Laufbahn als Schüler mit einem Zweizeiler über einen Halloween-Streich:
Zitat
"Die Kinder läuten, dann laufen sie weg,"
Großpapa fällt in Ohnmacht vor Schreck“
Die Zeiten haben sich geändert. Eine leuchtende Kürbisfratze erschreckt heute kaum noch jemanden. Großeltern, die mit den Beatles und Rolling Stones, Flower-Power und Studentenunruhen groß geworden sind, mit ihrem SUV durch die Gegend reisen, für die Computer kein Fremdwort mehr ist und die sich in der Mehrzahl körperlicher Fitness erfreuen, können sich auch auf die Bedürfnisse ihrer heutigen Enkel einstellen. Für diese sind sie jederzeit über WhatsApp erreichbar. So ist an die Stelle des Stereotyps vom runzeligen Alten im Lehnstuhl das Bild der unverändert agilen 70-Jährigen getreten.
Die in den letzten Jahrzehnten deutlich verlängerte Lebenszeit verändert die Generationenbeziehungen. Die "Generation Großeltern" verschwindet mit Erreichen der Regelaltersgrenze nicht im gesellschaftlichen Nirwana. Sie bildet einen gewichtigen Wirtschaftsfaktor, politisch ist sie wahlentscheidend. Firmen besinnen sich auf das riesige Erfahrungswissen der Älteren. Da trifft es sich gut, dass für eine zunehmende Zahl von Ruheständlern die Arbeit weiterhin eine unverändert positiv besetzte Form der Lebensgestaltung bleibt. Andere zwingt hingegen die nur geringe Rente zu einem Zuerwerb. Es gibt neue gesellschaftliche Erwartungen, um dieses Potential zu aktivieren – in Form von Nachbarschaftshilfe, dem Senioren-Experten-Service, als Mitarbeiter beim Bundesfreiwilligendienst oder Hilfen zur Pflege der noch Älteren. Verbunden wird eine Teilhabe am bürgerlichen Engagement gerne mit der Hoffnung auf eine finanzielle Entlastung der sozialen Sicherungssysteme – eine Erwartung, die in unserer leistungsorientierten Gesellschaft geradezu paradox erscheint, wenn man die sinkenden Rentenleistungen betrachtet.
Unbeeinflusst von allen anderen Rollenzuschreibungen steht die Unterstützung innerhalb der Familie im Vordergrund. Eine innige Beziehung zu den Enkeln gehört zum Idealbild heutiger Großelternschaft. Ganz wie im Märchen überwog früher die Wahrscheinlichkeit, nur noch den Großvater zu erleben. Die zunehmende Lebenserwartung beschert hingegen den eigenen Kindern und Enkeln eine lange gemeinsame Lebensphase – viele Enkel erleben alle vier Großeltern, in der Regel am längsten die Großmutter mütterlicherseits. Durch die abnehmende Geburtenrate konkurrieren dabei wenige Enkel um die Gunst von Oma und Opa. In mancher Familie gibt es mehr Großeltern als Enkel. Die Zahl der Verwandten in den Seitenlinien nimmt ebenfalls ab, wodurch sich die Beziehungen der Generationen auf die Herkunftsfamilie konzentrieren.
Im Übrigen sind die den Großeltern zugedachten Rollen in ihren familiären und gesellschaftlichen Funktionen eher diffus und nicht verpflichtend. Das ist gut so. Großeltern gibt es im Alter von 30 Jahren bis zu 120 Jahren, es sind die Eltern der mütterlichen oder väterlichen Linie, sie haben Enkel, die soeben geboren wurden, oder solche, die bereits eine eigene Familie haben, sie sind erwerbstätig oder befinden sich bereits im Ruhestand, sie erfreuen sich bester Gesundheit oder sind arm und pflegebedürftig, die Familienbeziehungen sind eng oder distanziert bis konfliktreich. Bei einer solchen Vielfalt familiärer Beziehungsmuster, die sich zudem noch beliebig ergänzen lässt, kann es keine bestimmten Verhaltenserwartungen geben. Wenn im Folgenden von "Großeltern" die Rede ist, handelt es sich folglich nur um eine typisierende Umschreibung, die der Vereinfachung dient, aber für eine sehr inhomogene Gruppe von Familiena...