Wozu braucht es überhaupt Großeltern? – Die bei den Menschen verhältnismäßig lange post-generative Lebensphase ist einzigartig und als "Großmutterhypothese" Gegenstand umfangreicher Forschungen.[28] Für unsere Betrachtung von Interesse ist der durch zahlreiche Untersuchungen weltweit nachgewiesene segensreiche Einfluss von Großeltern auf das Gedeihen von Familien und speziell der Enkelkinder.

Durchweg wirken hier verschiedene Mechanismen zusammen – von der Nahrungsbeschaffung über die fürsorgliche Unterstützung bis hin zum gegenseitigen Beistand in existenzbedrohenden Krisen. Erst eine externe Unterstützung ermöglicht es Menschen überhaupt, noch nicht selbstständige Kinder unterschiedlichen Alters gleichzeitig aufzuziehen. Ein Anthropologe drückte es einmal so aus:

Zitat

"Die gemeinsame Aufzucht der Jungen unterscheidet uns von den Affen. Sie ist der Schlüssel, um die Menschwerdung zu erklären."[29]

Ebenso gesichert ist, dass im westlichen Kulturkreis[30] die genetische Abstammung das stärkste Bindeglied für jegliche familiäre Unterstützung bildet. Keine andere soziale Gruppe – Freunde, Kollegen, Nachbarn – erreicht auch nur annähernd eine vergleichbar enge Bindung, wie sie durch die unmittelbaren Generationenbeziehungen zwischen Kindern, Eltern und Großeltern begründet wird.[31] Hieraus erhält die Familie ihre Kraft und in der Mehrzahl der Fälle können sich diese Personen auf eine bereitwillige, unentgeltliche Unterstützung verlassen. Der Volksmund hat schon lange erkannt: Blut ist dicker als Wasser.

Diese verwandtschaftliche Verbundenheit[32] ist die Basis der im Familienrecht so gerne – und oft in einem nicht passenden Kontext – beschworenen familiären Solidarität. Zwar ist davor zu warnen, bestehende Familienbeziehungen zu idealisieren. Die Familie kann auch ein Ort des Schreckens sein. Überwiegend bleiben jedoch Eltern und erwachsene Kinder ein Leben lang miteinander verbunden und sind bereit, sich wechselseitig zu unterstützen.[33] Bestehende Kontakte bleiben über lange Zeiten und große Entfernungen aufrechterhalten. Familiensolidarität lässt sich dabei aber in kein bestimmtes Muster pressen, sondern passt sich den vorgefundenen Lebensumständen an. Elementar sind die Prinzipien von Freiwilligkeit und Wechselbezüglichkeit, gepaart mit gegenseitiger Rücksichtnahme und einem gewissen Maß an Großzügigkeit. Besteht keine leibliche Elternschaft, ist es wiederum weniger wahrscheinlich, dass die Großelterngeneration zu den Kindern dieser sozialen Familie gleich enge Beziehungen entwickelt wie im Verhältnis zu ihren leiblichen Enkeln.[34] Für gesicherte Erkenntnisse ist es diesbezüglich aber noch zu früh.

Bis heute beeinflussen die Vorstellungen vom Zusammenleben der Generationen das Familienbild. Feste familiäre Bindungen sind jedoch nicht gleichbedeutend mit häuslicher Gemeinschaft. Der Mythos vom Leben in der "Großfamilie"[35] hat sich längst als eine romantisierende Verklärung früherer Lebensverhältnisse erwiesen. Die Großmutter von Rotkäppchen lebte in einem Singlehaushalt. Außerhalb der bäuerlichen Familienbetriebe entsprach dies eher der Lebenswirklichkeit, als die in einem Haushalt lebende "Drei-Generationen-Familie". Für den mitteleuropäischen Kulturkreis ist der Wegzug der Kinder aus dem elterlichen Haushalt mit der Neugründung eines eigenen Haushalts kennzeichnend. Daraus ergibt sich eine Konkurrenz zweier Haushalte.[36] Dementsprechend klein ist der Anteil der Haushalte, in denen drei oder mehr Personen leben. Er ist in den letzten 20 Jahren um 40 % gesunken und wird sich in Zukunft weiter vermindern.[37] Nicht der familiäre Status oder das Zusammenleben in einem Haushalt, sondern die gelebten Generationenbeziehungen prägen das Bild des Einzelnen von seiner Familie. Daher ist auch nicht ein Verfall der Familie zu besorgen.[38] Vielmehr erleben wir das Ergebnis eines Anpassungsprozesses zur multilokalen Mehrgenerationenfamilie oder "zu mehr menschlicher Nähe durch mehr räumlichen Abstand".[39]

Schon immer waren es die Großmütter mütterlicherseits, die als Helferinnen bei der Kinderversorgung eine Schlüsselrolle einnahmen.[40] Das Verhältnis zur Großmutter väterlicherseits – der Schwiegermutter – erweist sich hingegen oft als weniger komplikationslos. Und wo bleiben die Großväter? Sie sorgen für das Wohlergehen der Großmutter und widmen sich inzwischen ebenfalls vermehrt Betreuungsaufgaben. Mit den neuen Vätern kommen auch "neue Großväter", sodass die in der Vergangenheit beobachteten Unterschiede weitgehend verschwinden.[41] Für die Qualität ihrer Beziehung zu den Enkeln scheint dabei ein Engagement im frühen Enkelalter wichtiger zu sein, als es bei den Großmüttern der Fall ist.[42]

[28] Voland, Soziobiologie, 3. Aufl. 2009, S. 209 ff.; Neyer/Lang, Die Bevorzugung von genetischen Verwandten im Lebenslauf, ZFSP 2004, 115; Nave-Herz, Ehe- und Familiensoziologie, 2004, S. 189; Becker/Steinbach, Beziehungen zwischen Großeltern und Enkelkindern im Kontext des familialen Beziehungssystems, Zeitschrift für Bevölkeru...

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