GG Art. 6 Abs. 2 S. 1; BGB § 1666
Leitsatz
1. Zur Beseitigung der Kindeswohlgefährdung ist ein Sorgerechtsentzug nur dann geeignet, wenn der Ergänzungspfleger oder Vormund geeignete Maßnahmen zur Verbesserung der Situation des Kindes einleiten oder wenigstens zur Beendigung des kindeswohlgefährdenden Zustandes beitragen kann.
2. Ein Sorgerechtsentzug "auf Vorrat" ist jedenfalls dann nicht zu rechtfertigen, wenn für das Familiengericht erkennbar ist, dass die gebotene Fremdunterbringung in näherer Zeit kaum möglich ist.
(Leitsätze der Redaktion)
BVerfG, Beschl. v. 17.3.2014 – 1 BvR 2695/13 (KG Berlin, AG Pankow/Weißensee)
1 Aus den Gründen:
[1] Der Beschwerdeführer wendet sich gegen die Entziehung des Aufenthaltsbestimmungsrechts, der Gesundheitssorge und des Rechts zur Beantragung von Hilfen zur Erziehung für seinen 2004 geborenen Sohn. Bis heute lebt er mit diesem Kind in einem gemeinsamen Haushalt. Die Kindesmutter starb, als das Kind anderthalb Jahre alt war.
[2] 1. a) Nach der Einschulung im August 2010 entwickelte das Kind sehr gewalttätige Wutausbrüche, bei denen es mehrere Erwachsene verletzte. Die Beschulung wurde aufgrund anhaltender Schwierigkeiten zunächst reduziert und Anfang 2011 eingestellt.
[3] Ab Oktober 2010 fand eine ambulante Psychotherapie statt, dort wurden eine emotionale Störung des Kindesalters, eine Störung des Sozialverhaltens und eine Selbstwertproblematik diagnostiziert. Seit Ende 2010 ist das Kind außerdem in psychiatrischer Behandlung, dort wurde eine phobische Störung mit Wutanfällen diagnostiziert, das Kind erhält Psychopharmaka.
[4] Im Juni und Juli 2011 wurde das Kind in einer Kinder- und Jugendpsychiatrischen Klinik teilstationär behandelt, dort diagnostizierte man eine emotionale Störung mit Trennungsangst im Kindesalter und eine Anpassungsstörung mit gemischter Störung von Gefühlen und Sozialverhalten. Die Ärzte beobachteten eine auffällige Irritierbarkeit durch Veränderungen im häuslichen oder tagesklinischen Umfeld, die zu impulsiven Durchbrüchen und Weglaufen führte. Dem Beschwerdeführer falle es schwer, dem Kind Strukturen und Regeln, Halt und Orientierung zu vermitteln. Nach Abschluss der Behandlung empfahl die Klinik den Wechsel in ein Schulprojekt sowie eine weitere ambulante Psychotherapie und die Fortsetzung der Familienhilfe; auch eine gemeinsame Unterbringung von Vater und Sohn in einem Familienprojekt sei denkbar.
[5] Im Anschluss an die tagesklinische Behandlung wechselte das Kind ab August 2011 in ein teilstationäres, pädagogisch-psychologisch betreutes Schulprojekt. Die Einrichtung beendete die Hilfe im März 2012, weil sich die Situation nicht verbesserte und das Kind sich selbst und andere gefährdete. Die Einrichtung berichtete, dem Kind gehe es schlecht. Der Beschwerdeführer löse Verlassensängste aus, verunsichere das Kind und böte keine klare Orientierung. Das Kind dominiere den Beschwerdeführer und fühle sich als dessen Verbündeter im Kampf gegen eine diffuse Bedrohung. Es erlebe sich durch seine Wutausbrüche, die es auch gezielt einsetze, als mächtig; Dauer und Intensität der Ausbrüche nähmen zu. Der Beschwerdeführer sei außerstande, seine Beziehung zum Kind zu bearbeiten oder die kindlichen Bedürfnisse empathisch zu empfinden; er neige dazu, die Verantwortung für die Erziehung abzugeben.
[6] b) Nach dem Scheitern des Schulprojekts wurde im April 2012 auf Veranlassung des Jugendamts das beschwerdegegenständliche Hauptsacheverfahren zur Entziehung von Teilbereichen des Sorgerechts vor dem Amtsgericht eingeleitet.
[7] Ab Mai 2012 fand eine Einzelbeschulung von einer Schulstunde täglich statt, bei der das Kind unkonzentriert, wenig motiviert und trotzig erlebt wurde.
[8] Das Amtsgericht holte ein psychologisches Sachverständigengutachten ein, das im Oktober 2012 vorgelegt wurde. Die Sachverständige empfahl eine stationäre Hilfe für das Kind. Wegen der engen Bindung des Kindes an den Beschwerdeführer solle das Kind vorzugsweise gemeinsam mit dem Vater in einer Eltern-Kind-Einrichtung aufgenommen werden. Sollte der Beschwerdeführer eine solche Hilfe nicht annehmen, solle eine "stationäre Pflege" allein für das Kind erfolgen.
[9] In einer mündlichen Verhandlung im November 2012 erklärte der Beschwerdeführer, er bemühe sich um eine teilstationäre (tagesklinische) Behandlung des Kindes in einer Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Kindes- und Jugendalters. Das Jugendamt stellte in Aussicht, bei Vorliegen einer positiven Prognose der Tagesklinik könne eine "Clearingstelle" Vater und Kind für maximal drei Monate aufnehmen, danach komme ein Wechsel von Vater und Sohn in ein Familienwohnprojekt in Betracht.
[10] Der Beschwerdeführer begab sich im Januar 2013 mit dem Sohn wie vereinbart in psychologische/psychiatrische Behandlung, die aber bereits nach drei Wochen wegen Verhaltenseskalationen des Kindes mit Fremd- und Eigengefährdung sowie massiver Sachbeschädigung abgebrochen wurde. Die Ärzte empfahlen eine Unterbringung in einer stationären Eltern-Kind-Einrichtung oder eine Unter...