GG Art. 6 Abs. 2 S. 1; BGB § 1666 Abs. 1
Leitsatz
1. In Sorgerechtsverfahren muss die gerichtliche Sachverhaltsermittlung so erfolgen, dass sich die materiell-rechtlich geforderte hohe Prognosesicherheit tatsächlich erzielen lässt. (Rn 19)
2. Besondere verfassungsrechtliche Anforderungen gelten, wenn eine Sorgerechtsentziehung im Eilverfahren aufgrund einer lediglich summarischen Prüfung angeordnet werden soll. Auch hier sind hohe Anforderungen an die Sachverhaltsermittlung zu stellen. Sie sind umso höher, je geringer der möglicherweise eintretende Schaden des Kindes wiegt und in je größerer zeitlicher Ferne der zu erwartende Schadenseintritt liegt. (Rn 20) (Rn 23)
3. Ohne weitergehende Sachverhaltsaufklärung können die Gerichte eine Trennung des Kindes von seinen Eltern allerdings dann veranlassen, wenn die Gefahr wegen der Art der zu erwartenden Schädigung des Kindes und der zeitlichen Nähe des zu erwartenden Schadenseintritts ein sofortiges Einschreiten gebietet. Dies kommt etwa bei Hinweisen auf körperliche Misshandlungen, Missbrauch oder gravierende, gesundheitsgefährdende Formen der Vernachlässigung in Betracht. (Rn 24)
4. Kann durch Verwandtenunterbringung die Gefährdung des Kindeswohls gleichermaßen abgewendet werden, so wäre eine Heimunterbringung unverhältnismäßig. (Rn 29, 30)
5. Festsetzung des Gegenstandswerts auf 25.000 EUR.
(Leitsätze der Redaktion)
BVerfG, Beschl. v. 7.4.2014 – 1 BvR 3121/13 (OLG Düsseldorf, AG Langenfeld)
1 Gründe:
[1] I. 1. Die Beschwerdeführer wenden sich gegen die im Wege der einstweiligen Anordnung erfolgte Entziehung von Teilbereichen des Sorgerechts für ihre im Jahr 2010 geborene Tochter. Die Beschwerdeführer hatten mit ihrer Tochter in einem gemeinsamen Haushalt gelebt, bis diese am 27.5.2013 gegen den Willen der Eltern in einem Kinderheim untergebracht wurde. Die Beschwerdeführerin, die bereits erwachsene Söhne hat, war aufgrund psychischer Probleme seit der Geburt der Tochter kontinuierlich in ambulanter, vorübergehend auch stationärer psychotherapeutischer Behandlung. Seit Mai 2011 erhielt die Familie Unterstützung durch eine sozialpädagogische Familienhilfe.
[2] a) Auf Antrag des Jugendamts vom 24.5.2013 entzog das Amtsgericht den Beschwerdeführern mit angegriffenem Beschl. v. 24.5.2013 im Wege der einstweiligen Anordnung ohne vorherige Anhörung die Personensorge und bestellte eine Ergänzungspflegerin. Außerdem verpflichtete es die Beschwerdeführer zur Herausgabe des Kindes an die Ergänzungspflegerin. Aus der Antragsschrift des Jugendamts und der vom Jugendamt in Auftrag gegebenen psychiatrischen Stellungnahme des Gesundheitsamts ergebe sich, dass das Kind in der Obhut seiner Eltern gefährdet sei. Die Beschwerdeführerin sei in ihrer Erziehungsfähigkeit schwer beeinträchtigt, der Beschwerdeführer sei nicht in der Lage, dies auszugleichen und die Betreuung und Erziehung zu übernehmen. Im Haushalt der Beschwerdeführer bestünden starke Spannungen, die das Kind miterlebe. Nach der psychiatrischen Stellungnahme des Gesundheitsamts werde ein Verbleib in dem von Spannung, Aggressivität und Dissoziation geprägten Umfeld zu einer schweren Beeinträchtigung des Kindes führen. Nach dem Bericht des Jugendamts zeigten sich bei dem Kind bereits Auffälligkeiten.
[3] Das Mädchen wurde am selben Tag in einer sogenannten Kriseninterventionsgruppe eines Kinderheims untergebracht, wo sie seitdem lebt.
[4] b) Die Beschwerdeführer beantragten beim Amtsgericht, die Sorgerechtsentziehung aufzuheben, hilfsweise das Kind in den Haushalt der Großmutter oder einer Tante väterlicherseits zu überführen.
[5] aa) Das Amtsgericht hörte die Beschwerdeführer, das Jugendamt, die Ergänzungspflegerin, den Verfahrensbeistand, die ehemalige Familienhelferin und den Arzt an, der die psychiatrische Stellungnahme des Gesundheitsamts erstellt hatte. Die Großmutter und die Tante des Kindes väterlicherseits waren während der mündlichen Verhandlung im Gerichtsgebäude anwesend, wurden aber nicht gehört. Beide beantragten am selben Tag schriftlich, am Verfahren beteiligt und zum Ergänzungspfleger bestellt zu werden.
[6] bb) Mit angegriffenem Beschl. v. 4.7.2013 erhielt das Amtsgericht die einstweilige Anordnung aufrecht. Eine Änderung setze eine umfassende Abklärung der Fähigkeit und Bereitschaft der Beschwerdeführer oder anderer Bezugspersonen zur Wahrnehmung der Pflege und Erziehung des Kindes voraus, wozu ein psychiatrisches und familienpsychologisches Gutachten erforderlich sei. Im einstweiligen Verfahren habe sich gezeigt, dass die Beschwerdeführer bisher nicht in der Lage waren, ihr Verhalten gegeneinander und gegenüber dem Kind so zu steuern, dass eine Kindeswohlgefährdung vermieden werde. Die Beschwerdeführerin sei wegen ihrer Erkrankung derzeit nicht in der Lage, das Kind so zu betreuen, dass das Kindeswohl ausreichend gesichert sei. Der Beschwerdeführer sei nicht in der Lage, das Kind gegenüber dem Verhalten der Beschwerdeführerin abzuschirmen und seinerseits eine kindeswohlgerechte kontinuierliche Entwicklung sicherzustellen; allein w...