Zwar hat speziell in den Umgangs- und Sorgerechtsfällen, in denen der EGMR eine Konventionsverletzung wegen überlanger Verfahrensdauer bejahte, häufig auch die Gewährleistung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK) eine Rolle gespielt, ohne allerdings unbedingt entscheidungstragend zu werden. Im Mittelpunkt stand diese Gewährleistung jedoch in den (Einzel-)Fällen, in denen es, beginnend mit dem Verfahren "Görgülü", um die Versagung bzw. Vorenthaltung des Umgangs- oder Sorgerechts durch die zuständigen Behörden bzw. Gerichte ging.
In dem durch Urteil vom 26.2.2004 entschiedenen Verfahren "Görgülü", bei dem es um das Umgangsrecht eines türkischen Vaters mit seinem (in einer Pflegefamilie untergebrachten) nichtehelichen Kind ging, hat der Gerichtshof den Ansatz, den er bereits in den Fällen überlanger Verfahrensdauer verfolgt, aber noch nicht über Art. 6 Abs. 1 EMRK hinaus zum Gegenstand einer Verurteilung wegen Verletzung des Art. 8 EMRK gemacht hatte, vertieft und Folgendes festgestellt: Die effektive Achtung des Familienlebens, wie es durch Art. 8 EMRK geschützt sei, erfordere, dass zukünftige Beziehungen zwischen dem Elternteil und dem Kind nicht durch bloßen Zeitablauf bestimmt würden. Es entspreche außerdem grundsätzlich dem Kindesinteresse, die familiären Beziehungen eines bei Pflegeeltern untergebrachten Kindes zu seinem leiblichen Vater aufrechtzuerhalten, weil der Abbruch derartiger Beziehungen die Trennung des Kindes von seinen Wurzeln bedeute; der Ausschluss des Umgangsrechts des Vaters sei deshalb nur unter ganz außergewöhnlichen Umständen gerechtfertigt. Schließlich nahm der Gerichtshof diesen Fall auch zum Anlass, auf die sich aus Art. 46 EMRK ergebende Verpflichtung der Vertragsstaaten, das endgültige Urteil des EGMR zu befolgen, hinzuweisen. Dementsprechend sei der beklagte Staat nicht nur verpflichtet, die als gerechte Entschädigung zugesprochenen Beträge an den Betroffenen zu zahlen, sondern auch dazu, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um die vom Gerichtshof festgestellte Verletzung zu beenden und für ihre Folgen, soweit möglich, Wiedergutmachung zu leisten. Wenn der beklagte Staat – vorbehaltlich der Überwachung durch das Ministerkomitee (Art. 46 Abs. 2 EMRK) – auch in der Wahl der Mittel frei sei, könne das im vorliegenden Fall doch nichts anderes bedeuten, als dass dem Beschwerdeführer zumindest der Umgang mit seinem Kind ermöglicht werden müsse.
Diese Entscheidung, die während des Berichtzeitraums noch einige weitere vergleichbare Judikate des EGMR in Sorgerechts- und Umgangssachen zur Folge hatte, bei denen ebenfalls eine Verletzung des Art. 8 Abs. 1 EMRK festgestellt wurde, war zunächst durch einen nicht begründeten Nichtannahmebeschluss des BVerfG provoziert worden. Beim zweiten Durchgang, nachdem sich das OLG Naumburg im gleichen Fall erneut gegen die Übertragung des alleinigen elterlichen Sorgerechts und gegen die Gewährung des Umgangs positioniert hatte, erfolgte demgegenüber eine deutliche Intervention des BVerfG zugunsten des Beschwerdeführers Görgülü. Das Gericht sah sich insbesondere auch veranlasst, wegweisend an die Bedeutung der Gewährleistungen der EMRK und der Entscheidungen des EGMR im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung bundesdeutschen Rechts zu erinnern, selbst wenn die EMRK innerhalb der deutschen Rechtsordnung nur den Rang eines Bundesgesetzes habe und nicht mit dem Rang von Verfassungsrecht ausgestattet sei. Der Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zur EMRK bringe jedoch die Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes zum Ausdruck, weshalb nationales Recht nach Möglichkeit so auszulegen sei, dass ein Konflikt mit völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland nicht entstehe. – Diese deutlichen Worte haben allerdings nichts daran geändert, dass das BVerfG gegenüber der Intransigenz des OLG Naumburg in der Sache "Görgülü" noch mehrfach intervenieren musste.