Die Gegenüberstellung von Entscheidungen/Beschlussfassungen des BVerfG einerseits und des EGMR andererseits auf dem Gebiet des Familienrechts aus den letzten ca. 15 Jahren macht zunächst deutlich, dass der EGMR bei Einzelfallentscheidungen eher bereit ist, konkret-situativ zugunsten der Beschwerdeführer insbesondere auch dann zu votieren, wenn das zuvor mit der gleichen Angelegenheit befasste Bundesverfassungsgericht die Annahme der Verfassungsbeschwerde mangels grundsätzlicher verfassungsrechtlicher Bedeutung oder deswegen abgelehnt hat, weil dies seines Erachtens zur Durchsetzung der Grundrechte der jeweiligen Beschwerdeführer nicht "angezeigt" war (vgl. § 93a Abs. 2 BVerfGG). Diese Tendenz hat sich auch in den Fällen gezeigt, in denen die beiden Gerichte nicht nur verdeckt, sondern gewissermaßen "mit offenem Visier" gegeneinander angetreten sind, speziell in der Auseinandersetzung um die Stichtagsregelung nach § 10 Abs. 2 Nichtehelichengesetz. Die sonst immer wieder zu beobachtende Tendenz des EGMR, den Mitgliedstaaten des Europarats bzw. den dortigen Gesetzgebern (unüberprüfbare) Ermessens- und Beurteilungsspielräume einzuräumen, ist bei dieser Problematik zugunsten einer sehr am Einzelfall orientierten Betrachtungsweise aufgegeben oder wenigstens zurückgenommen worden, nachgerade aufklärerisch und "sittenbildend". Das ist aber nun einmal, wie auch immer wieder die Ausführungen des Gerichtshofs zur Rechtsvergleichung zeigen, dem Umstand geschuldet, dass das Vorverständnis der internationalen Richter am EGMR, dessen Jurisdiktionsbereich sich von Brest nach Wladiwostok (einschließlich Ukraine, Türkei, Georgien, Aserbeidschan) und vom Nordkap bis nach Sizilien erstreckt, naturgemäß anders konditioniert ist als dasjenige deutscher Verfassungsrichter.
Das letzte Wort, um das Thema dieses Beitrags wieder aufzugreifen, haben allerdings nicht der EGMR und auch nicht das Ministerkomitee, das nach Art. 46 Abs. 2 EMRK die Durchführung der endgültigen Urteile des Gerichtshofs überwacht. Das letzte Wort haben vielmehr die nationalen Instanzen (Gesetzgeber, Exekutive, Gerichtsbarkeit) des jeweils betroffenen Mitgliedstaats des Europarats, wobei sich die "Hohen Vertragsparteien" allerdings nach Art. 46 Abs. 1 EMRK verpflichtet haben, in allen Rechtssachen, in denen sie Partei sind, das endgültige Urteil des Gerichtshofs zu befolgen. Die Bundesrepublik Deutschland erfüllt ihre entsprechenden völkerrechtlichen Verpflichtungen, soweit ersichtlich, vorbildlich und dokumentiert das auch in den jährlichen Rechtsprechungsberichten des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz. Flankiert wird dies durch die seit 2007 geltenden Bestimmungen in diversen Prozessgesetzen bzw. -ordnungen, wonach eine Entscheidung des EGMR einen Wiederaufnahmegrund darstellt.
Autor: Prof. Dr. Christian Kirchberg, Rechtsanwalt, Karlsruhe
FF 7/2018, S. 272 - 279