"Zwei Dinge sollten Kinder von ihren Eltern bekommen: Wurzeln und Flügel", dieser beliebte und oft verwandte Sinnspruch, der vielfach Goethe zugeschrieben wird, bringt m.E. zwei wesentliche Aspekte sehr schön zum Ausdruck, die der elterlichen Verantwortung nach Art. 6 Abs. 2 GG innewohnen: Kindern einerseits als wichtigste Bezugspersonen Sicherheit und Geborgenheit zu geben, sie zu beschützen wie anzuleiten und sie andererseits zu befähigen, sich zu eigenständigen Persönlichkeiten zu entwickeln, die ihre Talente entfalten und sich ihren Platz in der Gesellschaft erobern können. Dem gerecht zu werden und ihren Kindern eine gute Mutter bzw. ein guter Vater zu sein, ist in aller Regel auch das Bestreben von Eltern.
Aber leider gelingt ihnen dies nicht immer, wie die Erfahrung lehrt.
Art. 6 GG hat dies mit seinen Absätzen 2 und 3 in weiser Zuordnung von Verantwortlichkeiten wohl bedacht: Er unterstreicht zunächst einmal das Recht der Eltern, ihre Kinder zu pflegen und zu erziehen, weist ihnen aber zugleich und zuvörderst auch die Pflicht zu, Sorge für ihre Kinder zu tragen. Dabei können Eltern zunächst einmal grundsätzlich frei von staatlichem Einfluss darüber entscheiden, wie sie ihrer Verantwortung für ihre Kinder nachkommen wollen. Richtschnur ihres Handelns muss allerdings stets das Wohl des Kindes sein, denn das Elternrecht ist ein Recht im Interesse des Kindes, das als Grundrechtsträger seinerseits ein Recht darauf hat, dass seine Eltern ihrer Verantwortung ihm gegenüber nachkommen.
Kurz sei hier nur angemerkt, dass diese Grundrechtsträgerschaft und Rechtsstellung des Kindes zwar schon seit Längerem vom Bundesverfassungsgericht festgestellt worden ist und inzwischen insbesondere auch im familiengerichtlichen Verfahrensrecht eine Rolle spielt, aber bedauerlicherweise immer noch nicht Eingang in das Grundgesetz gefunden hat, sodass Kinder hier weiterhin eher als Objekt elterlicher Rechtsausübung denn als Subjekt mit eigenen Rechten erscheinen. Dies sollte so bald wie möglich geändert werden.
Aber kommen wir wieder zurück zum geltenden Art. 6 GG. Quasi als Pendant zur Elternverantwortung nimmt die Grundrechtsnorm auch den Staat in Verantwortung, und zwar darüber zu wachen und ggf. sicherzustellen, dass die Ausübung der elterlichen Verantwortung sich auch tatsächlich am Kindeswohl ausrichtet und dieses nicht gefährdet. Insofern ist er gehalten, zum einen gesetzlich zu regeln, wann und unter welchen Voraussetzungen der freien Ausübung des Elternrechts um des Kindes Willen Grenzen zu setzen sind. Und zum anderen hat er helfend und schützend tätig zu werden, wenn im Einzelfall eine Kindeswohlgefährdung droht, eingetreten sein könnte oder gar schon eingetreten ist. Dabei darf er nach Art. 6 Abs. 3 GG Kinder gegen den Willen ihrer Eltern in solchen Fällen nur dann von diesen trennen, wenn es dafür eine spezielle gesetzliche Grundlage gibt.
Dem hat der Gesetzgeber mit dem Familienrecht des BGB, mit der Zuweisung familienrechtlicher Verfahren an die Familiengerichte als Teile der ordentlichen Gerichtsbarkeit gemäß § 13 GVG, mit dem Gesetz über die Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit, kurz: FamFG, sowie mit dem Kinder- und Jugendhilferecht des SGB VIII Rechnung getragen.
Der Staat übt also mit allen seinen drei Gewalten sein Wächteramt aus:
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Mit der Legislative durch Normsetzung familienrechtlicher Regeln, die die Elternverantwortung näher umreißen und dabei das Wohl des Kindes zum Maßstab nehmen, durch Etablierung eines spezifischen Verfahrensrechts für Familiensachen und durch Schaffung von Rechtsgrundlagen für das Handeln von Jugendämtern. |
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Mit der Judikative, den Familiengerichten, die bei Streitigkeiten von Eltern über ihre Rechte bezüglich ihres Kindes angerufen werden können und im Verfahren angehalten sind, nicht nur das Wohl, sondern auch den Wunsch und Willen des Kindes zu erkunden und es ggf. anzuhören. |
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Und mit der Exekutive, den Jugendämtern, zu deren Aufgaben die Beratung von Eltern, die Förderung von Kindern, die Bereitstellung von Hilfen zur Erziehung, die Mitwirkung an familiengerichtlichen Verfahren und notfalls die Durchführung von Maßnahmen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen bei Gefährdungen ihres Wohls nach § 8a SGB VIII zählen. |
Und weil im letzteren Fall, wenn die Sorgeberechtigten nicht willens oder in der Lage sind, bei der Verhinderung oder Beseitigung einer Kindeswohlgefährdung mitzuwirken, das Jugendamt auch hoheitlich tätig werden kann und ggf. muss, kommt hier nach geltendem Recht noch ein weiteres Mal die Judikative ins Spiel. Denn Art. 19 Abs. 4 GG eröffnet mit seiner sog. Rechtsweggarantie die Möglichkeit, sich klageweise zur Wehr zu setzen, wenn man sich durch das Handeln der öffentlichen Gewalt in seinen Rechten verletzt fühlt. Und dieser Rechtsweg führt gemäß § 62 SGB X i.V.m. § 40 VwGO zu den Verwaltungsgerichten, die dann darüber zu entscheiden haben, ob das gerügte Handeln der Jugendämter Rechte von Eltern oder Kindern verletzt ha...