Dr. Mathias Grandel
Es ist uns gelungen, exklusive Vorabdruckrechte der nachfolgenden Passagen aus dem in Kürze posthum erscheinenden Werk "Nagelmann: Kleines familienrechtliches Wörterbuch" für die FF zu sichern:
" … "Fiktion": Juristische Kunstform, vorhandene Tatsachen und Sachverhalte zu ignorieren und durch erdachte zu ersetzen. Erfreut sich insbesondere im Familienrecht steigender Beliebtheit. Sie ermöglicht den Gerichten, unter Ausblendung lästiger tatsächlicher Gegebenheiten zu dem vom Richter gewünschten, als richtig angesehenen Ergebnis zu gelangen. Bietet für das Gericht zwei unschätzbare Vorteile: Sie erspart zeitraubende Beweisaufnahmen zur Feststellung der tatsächlichen Umstände. Hypothetische Annahmen sind außerdem nicht widerlegbar. Dass das Gericht etwas falsch fingiert hat, wird nie zu Tage treten."
"Billigkeit": Zunehmend angewandter gesetzgeberischer Trick, eigene Regelungsverantwortung mangels politischen und gesellschaftlichen Konsenses auf die juristische Praxis zu verlagern. In der Reform des Unterhaltsrechts an mehreren Stellen erfolgreich vom Gesetzgeber praktiziert. Vorgeschobenes Argument ist dabei, durch Billigkeitsregelungen könne dem Einzelfall besser Rechnung getragen werden. Im Zentrum dieser Argumentation steht das Bestreben, den Ausnahmefall "gerechter" erfassen zu können. Dies spiegelt die bedauerliche Entwicklung im Familienrecht wider, alles auf den Ausnahmefall zu fokussieren und dabei die Rechtssicherheit für den Regelfall zu opfern.
Bei Gerichten stoßen Billigkeitsvorschriften im Allgemeinen auf Sympathie, erlauben sie doch unter Ausnutzung eines weiten Spielraumes eigene persönliche Vorstellungen umzusetzen. Die vom Gesetzgeber geschaffene Rechtsunsicherheit erhöht die Möglichkeiten des Gerichts, die Beteiligten zu einem Vergleich zu bewegen und fördert dadurch die Arbeitseffizienz der Gerichte. Die Erkenntnis, dass es Recht nicht mehr gibt, sondern vom Gericht allenfalls eine subjektiv gefärbte Billigkeitsbewertung zu erwarten ist, die zudem in zwei Instanzen sehr unterschiedlich ausfallen kann, führt zu verstärkter Abneigung der Anwaltschaft, die Gerichte überhaupt anzurufen und zu vermehrter außergerichtlicher Vergleichsbereitschaft. Ein vom Gesetzgeber gerne mitgenommener Nebeneffekt.
Findet eine Hauptverhandlung in Unterhaltssachen statt, sollte sich der Anwalt viel Zeit einplanen. Gefühlt hat sich die Verhandlungsdauer gegenüber dem alten Unterhaltsrecht verdoppelt. Muss das Gericht dann doch einmal eine Entscheidung treffen, wird das Scheitern einer vergleichsweisen Beendigung nicht selten übellaunig als Affront bewertet. Bei der Abfassung der Entscheidung muss das Gericht peinlich darauf achten, dass es zwar pauschale Kriterien gedanklich im Hinterkopf zum Maßstab seiner Entscheidung machen kann, dies so in den Beschluss aber keinesfalls hineinschreiben darf. Jede Entscheidung zu Billigkeitsfragen hat wenigstens formal mit dem Standardsatz zu enden: "Unter Abwägung aller Gesichtspunkte kommt das Gericht zum Ergebnis, dass … "
"Ehebedingte Nachteile": Unterform der Fiktion. Vom Gesetzgeber mit Wirkung ab 1.1.2008 über § 1578b BGB in das Gesetz aufgenommen. Es handelt sich um eine Zwischenphase bis zur vollständigen Abschaffung des nachehelichen Unterhalts. Erfordert in der Praxis das Nachzeichnen fiktiver Erwerbsverläufe, z.T. über Jahrzehnte hinweg und verlangt von Anwalt und Mandant erzählerische Kraft.
"Wohl des Kindes": Der am meisten strapazierte und missbrauchte Begriff im Familienrecht. Kommt altgedienten Familienrechtlern meist nur noch schwer über die Lippen. Das Kind ist seit dem Inkrafttreten des FamFG von zahlreichen Verfahrensbeteiligten "umzingelt", ohne dass sich der Eindruck aufdrängen würde, man komme dadurch der Konkretisierung dieser nebulösen Formel im Einzelfall näher … “
Autor: Dr. Mathias Grandel
Dr. Mathias Grandel, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Familienrecht, Augsburg