Entscheidungsstichwort (Thema)
Keine Berücksichtigung von Prozesskosten zur Abwehr einer Kindeswohlgefährdung sowie des damit verbundenen Strafverfahrens als außergewöhnliche Belastung
Leitsatz (redaktionell)
1. Als Existenzgrundlage im Sinne des § 33 Abs. 2 Satz 4 EStG ist nur die materielle Lebensgrundlage des Steuerpflichtigen zu verstehen. Prozesskosten zur Abwehr einer Kindeswohlgefährdung sowie des damit verbundenen Strafverfahrens sind daher nicht als außergewöhnliche Belastung abzugsfähig.
2. Für eine erweiternde Auslegung des § 33 Abs. 2 Satz 4 EStG dahingehend, dass auch Aufwendungen für Streitigkeiten berücksichtigt werden müssten, die einen Kernbereich des menschlichen Lebens berühren, mithin die „immaterielle Existenzgrundlage” des Steuerpflichtigen betreffen, ist kein Raum; sie ist auch unter verfassungsrechtlichen Aspekten nicht geboten.
Normenkette
EStG § 33 Abs. 2 S. 4; GG Art. 20 Abs. 3, Art. 3 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Kosten des Verfahrens hat die Klägerin zu tragen.
Tatbestand
Streitig ist, ob die der Klägerin entstandenen Kosten auf Grund einer Auseinandersetzung mit dem Jugendamt wegen ihres minderjährigen Sohnes als außergewöhnliche Belastungen gem. § 33 Einkommensteuergesetz (EStG) abzugsfähig sind.
Die einzeln veranlagte Klägerin ist Lehrerin und war für ihren im Streitjahr 17 Jahre alten, in ihrem Haushalt lebenden Sohn allein sorgeberechtigt. Ihr Sohn wandte sich im Frühjahr 2018 an das Jugendamt in der Absicht, eine eigene Wohnung beziehen zu wollen. Nach Darstellung der Klägerin sei ihr Sohn bei diesen Vorhaben von den Mitarbeitern des Jugendamts unterstützt worden während sie außen vorgelassen worden sei. Nach mehreren Wochen der Eskalation der häuslichen Situation unternahm der Sohn schließlich einen Suizidversuch, der in einen mehrwöchigen Klinikaufenthalt sowie eine gerichtliche Anhörung mündete. Dies führte u.a. dazu, dass die Klägerin anwaltliche Hilfe in Anspruch nahm und u.a. Strafanzeige gegen Mitarbeiter des Jugendamts erstattete.
In ihrer Einkommensteuererklärung 2018 machte die Klägerin – soweit noch zwischen den Beteiligten streitig – ihr anlässlich dieser Umstände entstandene Kosten i.H.v. insgesamt … EUR als außergewöhnliche Belastungen geltend. Dabei handelt es sich um Fahrtkosten für Klinikbesuche, für Besprechungen mit dem Jugendamt, zur neuen Unterkunft des Sohnes in einer betreuten Wohneinrichtung und Besprechungen mit Betreuer, zu zwei Anwälten und zur gerichtlichen Anhörung sowie um Anwaltskosten.
Sowohl im Erstbescheid vom 10. Juli 2020, gegen den die Klägerin form- und fristgerecht Einspruch eingelegt hat, als auch im wegen nicht mehr streitiger Punkte erlassenen Teilabhilfebescheid vom 9. April 2021 sowie in der streitgegenständlichen Einspruchsentscheidung vom 1. Juli 2021 erkannte das beklagte Finanzamt (FA) die diese Kosten nicht an.
Mit ihrer form- und fristgerechten eingereichten Klage verfolgt die Klägerin ihr Begehr auf Anerkennung der ihr entstandenen Prozesskosten als außergewöhnliche Belastungen weiter. Vertiefend trägt sie vor, dass nur durch die anwaltliche Hilfe eine Akteneinsicht ermöglicht worden und nur so das rechtswidrige Handeln des Jugendamtes nachweisbar gewesen sei. Unter den Begriff der Existenzgrundlage i. S. d. § 33 Abs. 2 Satz 4 EStG sei auch die immaterielle Lebensgrundlage des Steuerpflichtigen zu verstehen. Prozesskosten zur Abwehr einer Kindeswohlgefährdung sowie des damit verbundenen Strafverfahrens berühren den Kernbereich des menschlichen Lebens und seien deshalb zur Wahrung der immateriellen Existenzgrundlage erforderlich. Der elterliche Wunsch nach gegenseitiger Liebe und Nähe zum Kind, der durch das Umgangsrecht als grundlegender Basis der Eltern-Kind-Beziehung geschützt werde, sei ein elementares menschliches Bedürfnis (vgl. Bundesfinanzhof – BFH – vom 04.12.2001 – Az.: III R 31/00). Es sei als Teil des Elternrechts von Art. 6 Abs. 2 Grundgesetz (GG) geschützt (Bundesverfassungsgericht – BverfG – vom 09.04.2003 – Az.: 1 BvR 1493/96). Als dem natürlichen Recht der Eltern komme dem Elternrecht eine herausgehobene Bedeutung im Vergleich mit anderen Freiheitsgewährleistungen zu, da es durch einen besonders engen Zusammenhang mit der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG geprägt sei. Beim Umgangsrecht handele es sich dementsprechend um ein Recht, dessen oberste Richtschnur das Wohl des Kindes sei. Diese elterlichen Rechte bzw. Pflichten würden durch ein „staatliches Wächteramt” ergänzt, das den Staat verpflichte, die Einhaltung der Grenzen des Elternrechts und die Elternpflichten zu überprüfen und notfalls korrigierend einzugreifen. Da die Selbsthilfe nach dem freiheitswahrenden Verständnis des Grundgesetzes Vorrang vor der Fremdhilfe durch den dazu verpflichteten Sozialstaat habe, verhielte es sich widersprüchlich und freiheitsfeindlich, wenn der für das Kindeswohl (nur subsidiär) verantwortliche Wächterstaat den Eltern die notwendigen Mittel für die Wahrnehmung ihrer Pflicht aus Art. 6 Abs....