Entscheidungsstichwort (Thema)
EuGH-Vorlage: Ort der mehrwertsteuerlichen Einfuhr - Entsprechende Anwendung von Art. 87 Abs. 4 UZK auf die Einfuhrumsatzsteuer
Leitsatz (amtlich)
I. Das Verfahren wird bis zur Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (Gerichtshof) ausgesetzt.
II. Dem Gerichtshof werden folgende Fragen zur Auslegung einer Handlung der Organe der Union im Wege der Vorabentscheidung vorgelegt:
Vorlagefragen:
1. Sind dieArt. 30 und 60 der Richtlinie 2006/112/EG dahingehend auszulegen, dass der mehrwertsteuerrechtliche Ort der Einfuhr eines in einem Drittland zugelassenen Transportmittels, das unter Verstoß gegen zollrechtliche Vorschriften in die Union verbracht wird, in dem Mitgliedstaat liegt, in dem der zollrechtliche Verstoß begangen und das Transportmittel erstmals in der Union als Transportmittel benutzt wurde, oder in dem Mitgliedstaat, in dem Derjenige, der den zollrechtlichen Pflichtenverstoß begangen hat, ansässig ist und das Fahrzeug dort nutzt?
2. Für den Fall, dass der Ort der Einfuhr in einem anderen Mitgliedstaat als Deutschland liegt: Verstößt es gegen die Richtlinie 2006/112/EG, insbesondere deren Art. 30 und 60, wenn eine mitgliedstaatliche Vorschrift den Art. 87 Abs. 4 der Verordnung (EU) Nr. 952/2013 für entsprechend auf die Einfuhrmehrwertsteuer anwendbar erklärt?
Normenkette
Richtlinie 2006/112/EG Art. 30; MwStSystRL Art. 30, 60, 71; UZK Art. 87 Abs. 4
Nachgehend
Gründe
A.
Der Kläger wendet sich gegen die Festsetzung von Einfuhrmehrwertsteuer - in Deutschland Einfuhrumsatzsteuer genannt - auf ein unter Verstoß gegen zollrechtliche Vorschriften ins Unionsgebiet verbrachtes Fahrzeug.
Der in Deutschland seit mehreren Jahren ansässige und gemeldete Kläger mit georgischer Staatsangehörigkeit erwarb im Januar 2019 in Georgien einen in Georgien auf seinen Namen zugelassenen Toyota ... (im Folgenden: Fahrzeug). Zur Finanzierung des Kaufpreises verpfändete er das in seinem Eigentum stehende Fahrzeug an eine georgische Bank. Im März 2019 fuhr er mit dem Fahrzeug von Georgien über die Türkei, Bulgarien, Serbien, Ungarn und Österreich nach Deutschland, ohne das Fahrzeug in der Union zu einer Einfuhrzollstelle zu befördern und zu gestellen. In Deutschland benutzte der Kläger das Fahrzeug für private und - was das beklagte Hauptzollamt bestreitet - geschäftliche Fahrten. Bei einer dieser Fahrten wurde der Kläger am ... März 2019 von einer Kontrolleinheit des Beklagten kontrolliert. Zuletzt fiel das Fahrzeug in Deutschland wegen eines Verstoßes gegen straßenverkehrsrechtliche Vorschriften im Oktober 2020 auf.
Mit Einfuhrabgabenbescheid vom 13. Mai 2019 setzte der Beklagte 4.048,13 € Zoll und 8.460,59 € Einfuhrumsatzsteuer gegen den Kläger fest. Zur Begründung gab der Beklagte an, dass der Kläger das Fahrzeug entgegen seiner Pflicht aus Art. 139 UZK nicht an der ersten Zollstelle im Unionsgebiet gestellt habe. Daher sei das Fahrzeug vorschriftswidrig in das Zollgebiet der Union verbracht worden, sodass eine Einfuhrzollschuld gemäß Art. 79 Abs. 1 Buchst. a UZK entstanden sei. Der Kläger sei Zollschuldner gemäß Art. 79 Abs. 3 Buchst. a UZK, weil er zur Gestellung verpflichtet gewesen wäre. Die Einfuhrumsatzsteuer sei in entsprechender Anwendung der genannten Zollvorschriften gemäß § 21 Abs. 2 Umsatzsteuergesetz entstanden.
Nach einem erfolglosen Einspruchsverfahren hat der Kläger am 9. Februar 2020 Anfechtungsklage gegen den Einfuhrabgabenbescheid erhoben. Auf Hinweis des Gerichts hat der Kläger die Klage bezüglich des Zolls zurückgenommen.
B.
Der Vorlagebeschluss ergeht im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung.
Der vorlegende Senat setzt das Verfahren in entsprechender Anwendung von § 74 der Finanzgerichtsordnung aus und legt dem Gerichtshof gemäß Art. 267 Satz 1 Buchst. b des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union die im Tenor genannten Fragen zur Vorabentscheidung vor, weil die rechtliche Würdigung des Falles von der Auslegung eines Unionsrechtsaktes abhängt.
I. Rechtlicher Rahmen
1. Mehrwertsteuerrichtlinie 2006/112/EG
Gemäß Art. 2 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1; im Folgenden: "Mehrwertsteuerrichtlinie" oder "MwStRL") unterliegt die Einfuhr von Gegenständen der Mehrwertsteuer.
Nach Art. 30 Abs. 1 MwStRL gilt als Einfuhr eines Gegenstands die Verbringung eines Gegenstands, der sich nicht im freien Verkehr befindet, in die Union.
In Art. 60 MwStRL heißt es zum "Ort der Einfuhr von Gegenständen":
Die Einfuhr von Gegenständen erfolgt in dem Mitgliedstaat, in dessen Gebiet sich der Gegenstand zu dem Zeitpunkt befindet, in dem er in die Gemeinschaft verbracht wird.
In Art. 62 MwStRL heißt es zum "Steuertatbestand und Steueranspruch":
Für die Zwecke dieser Richtlinie gilt
(1) als "Steuertatbestand' der Tatbestand, durch den die gesetzlichen Voraussetzungen für den Steueranspruch verwirklicht werden;
(2) als...