Entscheidungsstichwort (Thema)
Antragsveranlagung, Anlaufhemmung, Verfassungsmäßigkeit
Leitsatz (redaktionell)
1) Im Fall der Antragsveranlagung nach § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG besteht keine Verpflichtung zur Abgabe einer Steuererklärung, so dass die Anlaufhemmung nach § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO nicht anzuwenden ist.
2) Die Nichterstreckung der Anlaufhemmung nach § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO auf Fälle der Antragsveranlagung begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken.
Normenkette
EStG § 52 Abs. 55j S. 2; AO § 170 Abs. 2 S. 1 Nr. 1; EStG § 46 Abs. 2 Nr. 8
Nachgehend
Tatbestand
Die Klägerin ist als Erzieherin nichtselbständig tätig. Für die Streitjahre wurde sie bisher nicht zur Einkommensteuer veranlagt. Am 11. Dezember 2009 reichte die Klägerin Einkommensteuererklärungen für die Jahre 2001 bis 2007 beim Beklagten ein, verbunden mit dem Antrag, sie gemäß § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG zur Einkommensteuer zu veranlagen. Der Beklagte folgte diesem Begehren nur für die Jahre 2005 bis 2007 (Bescheide vom 20. Januar 2010). Für die Streitjahre 2003 und 2004 lehnte der Beklagte die begehrte Veranlagung mit vorliegend streitgegenständlichem Bescheid vom 11. Januar 2010 unter Hinweis auf den Ablauf der Antragsfrist ab.
Mit dem Einspruch machte die Klägerin unter Bezugnahme auf die BFH-Urteile vom 15. Januar 2009 VI R 23/08 (BFH/NV 2009, 755) und vom 12. November 2009 (VI R 1/09, BFHE 227, 97, BStBl II 2010, 406) geltend, in Fällen der Antragsveranlagung gelte die generelle Festsetzungsfrist unter Beachtung der Vorschriften über die Anlaufhemmung. Verjährung könne daher nur für 2001 eingetreten sein.
Der Einspruch blieb ohne Erfolg. Zur Begründung führte der Beklagte in der Einspruchsentscheidung vom 22. April 2010 aus: Die Festsetzungsfrist beginne grundsätzlich mit Ablauf des Kalenderjahres der Steuerentstehung. Etwas anderes gelte nach § 170 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 AO lediglich, wenn eine Steuererklärung abzugeben sei. Eine solche Verpflichtung habe für die Streitjahre jedoch nicht bestanden, so dass die Festsetzungsfrist für 2003 am 31. Dezember 2007 und für 2004 am 31. Dezember 2008 geendet habe. Das dieser Auffassung entgegenstehende rechtskräftige Urteil des FG Köln vom 3. Dezember 2008 könne über den entschiedenen Einzelfall hinaus nicht angewendet werden. Das BFH-Urteil vom 15. Januar 2009 VI R 23/08 (BFH/NV 2009, 755) sei bereits deshalb nicht einschlägig, weil in dem dieser Entscheidung zu Grunde liegenden Fall die Höhe der Nebeneinkünfte (mehr als 410 EUR, positiv oder negativ) eine Rolle gespielt habe. Im Urteil vom 12. November 2009 (VI R 1/09, BFHE 227, 97, BStBl II 2010, 406) habe der BFH ausdrücklich den Vorbehalt des Ablaufs der Verjährungsfrist erwähnt; zur Frage der Anlaufhemmung nach § 170 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 AO habe sich der BFH dort nicht geäußert.
Die Klägerin macht geltend, es sei höchstrichterlich geklärt, dass Wegfall der früher in § 46 Abs. 1 geregelten Antragsfrist auch für Veranlagungszeiträume vor 2006 gelte (§ 52 Abs. 55j EStG). Ebenso sei geklärt, dass die dreijährige Anlaufhemmung unter Berücksichtigung gleichheitsrechtlicher Gesichtspunkte auch für Fälle der Antragsveranlagung gelte (Hinweis auf BFH-Urteile vom 15. Januar 2009 VI R 23/08 (BFH/NV 2009, 755) und vom 15. Januar 2009 VI R 63/06 (BFH/NV 2009, 1105). Der Beklagte habe deshalb die eindeutigen Ausführungen des FG Köln aus dem rechtskräftigen Urteil vom 3. Dezember 2008 11 K 4917/07 umzusetzen.
Die Klägerin beantragt,
das Verfahren auszusetzen und dem Bundesverfassungsgericht zur Klärung der Frage vorzulegen, ob die Anlaufhemmung gemäß § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO auch in Fällen der Antragsveranlagung nach § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG anzuwenden sei, hilfsweise den Beklagten unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom 11. Januar 2010 und der Einspruchsentscheidung vom 22. April 2010 verpflichten, die Klägerin für die Jahre 2003 und 2004 erklärungsgemäß zu veranlagen, äußerst hilfsweise die Zulassung der Revision.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte bezieht sich dazu im Wesentlichen auf die Begründung in der Einspruchsentscheidung und verweist auf die Kommentierung von Schmidt/KULOSA, EStG 29. Auflage, § 46 Rz. 34.
Das Gericht hatte das Verfahren mit Beschluss vom 23. August 2010 bis zum rechtskräftigen Abschluss des damals beim BFH anhängigen Verfahrens VI R 53/10 ausgesetzt. Auf die vom Bevollmächtigten mit der Begründung eingelegte Beschwerde, der in diesem Verfahren anhängige Fall sei nicht vorgreiflich für die Entscheidung des Streitfalls, hat das Gericht den Aussetzungsbeschluss mit Beschluss vom 2. September 2010 aufgehoben.
Nach ergehen der Entscheidung des BFH im Verfahren VI R 53/10 am 14. April 2011 und Hinweis des Gerichts auf die sich daraus ergebenden Bedenken gegen die Erfolgsaussichten der Klage mit Schreiben vom 1. August 2011 beantragte der Bevollmächtigte, mit der Entsche...