Entscheidungsstichwort (Thema)
Abzweigung von Kindergeld. Ermessensentscheidung
Leitsatz (redaktionell)
1. Soweit die Familienkasse davon ausgeht, dass eine Abzweigung von Kindergeld generell ausscheidet, wenn dem Unterhalt gewährenden Sozialleistungsträger nach sozialrechtlichen Vorschriften kein oder nur ein beschränkter Unterhaltsrückgriff offen steht, liegt eine Ermessensunterschreitung vor.
2. Ein Ermessensfehler liegt auch insoweit vor, als die Familienkasse den für die Ermessensentscheidung maßgeblichen Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt hat und zu Lasten des Sozialleistungsträgers unterstellt, dass die vom Kindergeldberechtigten erbrachten materiellen und immateriellen Unterhaltsleistungen die Höhe des Kindergelds erreichen.
Normenkette
EStG § 74 Abs. 1; FGO § 102; SGB XII § 43 Abs. 2, § 94 Abs. 2
Tenor
1. Der Bescheid über die Ablehnung der Abzweigung des Kindergeldes für V vom 26. November 2005 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 02. Februar 2005 wird aufgehoben.
2. Die Beklagte wird verpflichtet, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats erneut zu bescheiden.
3. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
4. Die Kosten des Verfahrens tragen der Kläger und die Beklagte je zur Hälfte.
5. Das Urteil ist im Kostenpunkt für den Kläger vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu erstattenden Kosten des Klägers die Vollstreckung abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.
Tatbestand
Streitig ist, ob eine Abzweigung von Kindergeld an eine Unterhalt gewährende Stelle zu erfolgen hat.
I.
Der Beigeladene ist der Vater des am … 1975 geborenen V. V ist schwerbehindert (Grad der Behinderung 50 v.H.). Er ist in einer Werkstätte für Behinderte beschäftigt, steht aber nicht unter Betreuung. Er bewohnt selbstständig eine Wohnung. Der Kläger (der Landkreis –Lkr–) erbringt gegenüber V gemäß Bescheid vom 14. Oktober 2005 ab 01. Januar 2005 Grundsicherungsleistungen nach § 42 Nr. 1 und Nr. 2 Sozialgesetzbuch Teil XII (Regelbedarf, Unterkunfts- und Heizungskosten) ohne Anrechnung von Kindergeld. Hierauf werden die bereinigten Einkünfte des V (§ 82 Abs. 1 und 3 SGB XII) angerechnet. Daneben werden vom Lkr im Rahmen der Eingliederungshilfe Leistungen für ambulantes betreutes Wohnen gewährt. Hinsichtlich der im Einzelnen gewährten Leistungen wird auf die Anlagen zum Schreiben des LRA vom 07. November 2005 Bezug genommen.
Der Beigeladene wird vom Lkr im Hinblick auf die erbrachten Leistungen der Eingliederungshilfe aufgrund des nach § 94 Abs. 2 SGB XII übergegangenen Unterhaltsanspruchs seit Mai 2005 in Höhe von monatlich 26 EUR in Anspruch genommen. Das Kindergeld für V wurde von der Beklagten (Familienkasse –FK–) zunächst an den Beigeladenen ausgezahlt.
Nachdem der Lkr V erfolglos aufgefordert hatte, die Abzweigung des Kindergelds an sich selbst zu beantragen, begehrte er seinerseits mit o.g. Schreiben vom 07. November 2005 die Abzweigung des Kindergelds an sich selbst wegen Verletzung der Unterhaltspflicht der Eltern. Dabei wies er darauf hin, dass im Grundsicherungsrecht ein Unterhaltsrückgriff zwar nicht möglich sei, dies die zivilrechtliche Unterhaltspflicht aber nicht ausschließe. Die Eltern würden das Kindergeld vereinnahmen, ohne es an V –trotz dessen offensichtlicher Bedürftigkeit– weiterzureichen.
Die FK lehnte den Abzweigungsantrag mit Bescheid vom 26. November 2005 ab. Zur Begründung führte sie Folgendes aus:
”Nachdem von Ihnen kein Unterhaltsrückgriff möglich ist, kann eine Abzweigung an Sie nicht erfolgen. Zudem gibt der Kindergeldberechtigte an, seine Unterhaltsverpflichtung gegenüber V zum Teil nachzukommen in dem er Fahrtkosten, Eintrittsgelder für Veranstaltungen trägt, die Wäsche reinigt und V bei Veranstaltungen begleitet. Die Entscheidung beruht auf § 74 Abs. 1 EStG.”
Den hiergegen gerichteten Einspruch wies die FK nach Hinzuziehung des Beigeladenen zum Verfahren (§ 360 Abgabenordnung) mit Einspruchsentscheidung vom 02. Februar 2006 als unbegründet zurück. Hinsichtlich der insoweit erfolgten Begründung wird auf die Einspruchsentscheidung Bezug genommen.
Hiergegen richtet sich die fristgerecht eingereichte Klage. Zu deren Begründung wird im Wesentlichen Folgendes geltend gemacht: Im Grundsicherungsrecht erfolge zwar kein Unterhaltsrückgriff. Dadurch werde der zivilrechtliche Unterhaltsanspruch aber nicht ausgeschlossen. Ausreichend für eine Abzweigung sei es, wenn der Kindergeldberechtigte seiner Unterhaltspflicht teilweise nicht nachkomme. Entscheidend sei, dass der Unterhaltsanspruch des Kindes, der gemäß § 1610 Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) seinen gesamten Lebensbedarf einschließlich behinderungsbedingter Mehraufwendungen umfasse, von einem Dritten –hier einem Sozialhilfeträger– erbracht werde. § 43 Abs. 2 S. 1 SGB XII lasse Unterhaltsansprüche bei einem jährlichen Gesamteinkommen der Eltern unter 100.000 EUR unberücksichtigt, verdränge dadurch aber diese Unterhaltsansprüche nicht. Dasselbe gelte sowe...