Entscheidungsstichwort (Thema)
Haftung wegen Beihilfe zur Steuerhinterziehung durch Ausstellung von Barverkaufsrechnungen ohne vollständige Empfängerbezeichnung - bedingt vorsätzliche Hilfeleistung - Ermessensunterschreitung der Finanzbehörde hinsichtlich der Höhe der Haftungsinanspruchnahme - Berücksichtigung der Relation zwischen Schadenshöhe und Grad des Verschuldens
Leitsatz (redaktionell)
1) Zu den Anforderungen an eine fehlerfreie Ermessensausübung bei der Haftungsinanspruchnahme wegen Beihilfe zur Steuerhinterziehung.
2) Bei der Ausübung des Entschließungsermessens zur Höhe der Inanspruchnahme ist die Relation des durch die Beihilfe des Haftungsschuldners entstandenen Steuerschadens zu dem Grad seines Verschuldens zu würdigen.
3) Aus der Rechtsprechung des BFH, derzufolge § 71 AO keinen Strafcharakter hat, kann nicht abgeleitet werden, die Höhe der Schuld und die Tatnähe des Gehilfen hätten keine Auswirkungen auf die Höhe der Haftungsinanspruchnahme.
4) Besteht keine persönliche Nähebeziehung zwischen dem Gehilfen und dem Täter, nimmt der Gehilfe die Tat des Haupttäters nur billigend in Kauf und ist seine Schuld im Verhältnis zu der des Haupttäters erheblich geringer, sind die geringere Schuld und die Tatferne des Gehilfen bei der Ausübung des Entschließungsermessens zur Höhe der Haftungsinanspruchnahme zu berücksichtigen; ein "Automatismus" dahin, dass die Beihilfehandlung die Ermessensausübung auch zur Höhe der Inanspruchnahme vorprägt, ist nicht sachgerecht.
Normenkette
AO 1977 §§ 44, 71, 144, 191; StPO § 153 a; UStG § 14 Abs. 1, § 15 Abs. 1, 1 Sätze 1, 1 Nr. 1; BpO § 9; StGB § 27 Abs. 1, § 46; FGO § 102; GG Art. 14; AO 1977 § 5
Tatbestand
Streitig ist die Rechtmäßigkeit eines Haftungsbescheids nach § 71 AO.
Der Kläger (Kl.) war in den Jahren 1987 bis 1992 zusammen mit D. … und R. Kommanditist der Firma F. GmbH und Co. KG (F-KG) in B.. Komplementärin der F-KG war die F. GmbH, deren Geschäftsführer der Kl. und D. waren. Die F-KG betrieb den ursprünglich von P…. gegründeten Großhandel mit Lebensmitteln für asiatische Restaurants fort. 1987 erwarben die Genannten den Großhandel und führten ihn in der Rechtsform einer GmbH & Co. KG fort. 1988 wurde als weiterer Kommanditist N. O. aufgenommen. N. O. war noch von P. als Geschäftsführer eingestellt worden. Er blieb auch nach seiner Aufnahme als Kommanditist Geschäftsführer nur der F-KG, Geschäftsführer der F. GmbH wurde er nicht.
Der Kl. war für den kaufmännischen Bereich (finanzielle, buchhalterische und steuerliche Angelegenheiten) der F-KG, N. O. für den operativen Bereich (Vertrieb und Kundenbetreuung) zuständig. Daneben war der Kl. auch Geschäftsführer der J. GmbH (J-GmbH) mit Sitz in H.. Der Kl. hielt sich überwiegend in seinem Büro bei der J-GmbH auf. Deren Stammkapital hielten der Kl. zu 30 v.H., D. und R. zu je 35 v.H. Der Kl. war kaufmännischer Leiter der J-GmbH, die einen Teil der Buchhaltung der F-KG übernahm. Die Buchhaltungsarbeiten wurden in der Form geteilt, dass die Debitorenbuchungen zunächst die F-KG vornahm. Die weitere Buchhaltung – u.a. Verbuchung des Zahlungsverkehrs und Erstellung der Jahresabschlüsse – erfolgte durch die J-GmbH. Dafür erhielt sie von der F-KG ein Entgelt.
Die F-KG belieferte u. a. auch C., der in P., …, ein China-Restaurant betrieb. C. gab – wie zahlreiche andere Kunden – gleich bei den Bestellungen an, über welche Waren er eine Rechnung mit seinem vollen Namen und Adresse wünschte, und über welche Waren eine Rechnung ohne Namen und Adresse (Barverkaufsrechnung) ausgestellt werden sollte. Die F-KG nahm die Bestellungen mittels eines Formulars an, in dem die Ware gleich getrennt nach Lieferung auf Rechnungen mit Empfängernamen und Lieferungen auf Barverkaufsrechnungen notiert wurde. Die Rechnungserstellung für die Lieferungen an C. und andere Kunden erfolgte in Form des so genannten Rechnungssplittings. Entsprechend der jeweiligen Bestellung des C. wurde über einen Teil der gelieferten Waren eine Rechnung erteilt, in der dieser als Empfänger der Ware mit Namen und vollständiger Adresse offen ausgewiesen wurde. Über den weiteren Teil der Warenlieferung wurde eine Barverkaufsrechnung erstellt. Intern ordnete die F-KG die ohne Namen und Adresse des C. ausgestellten Rechnungen anhand einer Kundennummer, die nach einem bestimmten System vergeben wurde, diesem wieder zu. Das Rechnungssplitting wurde bereits praktiziert, als das Unternehmen noch von P. geführt wurde. Das Kundenummernsystem wurde in den Jahren 1988 bis 1992 mehrfach geändert. Von 1988 bis Anfang 1990 wurde auf der Durchschrift der Barverkaufsrechnungen die Kundennummer handschriftlich vermerkt. Teilweise wurden die Nummern 88/89 hinzugefügt. Diese Nummern bezeichneten interne Barverkaufskonten, über welche die Barverkaufsrechnungen zunächst verbucht wurden. Von Anfang 1990 bis Mitte 1993 wurde in den Barverkaufsrechnungen im Anschriftenfeld das Bestelldatum und die Kundennummer vermerkt, beispielsweise bei einer Bestellung des C. am 20. Februar 1990 „Barverkauf 20...