Entscheidungsstichwort (Thema)
Frage der Nichtigkeit eines Bescheides; Einspruchsfrist, Versäumnis, Emmott'sche Fristhemmung; Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, Begriff der "höheren Gewalt"
Leitsatz (redaktionell)
1. Die nicht ordnungsgemäße Umsetzung einer EU-rechtlichen Norm (im Streitfall Art. 13 Teil B Buchst. f der 6. EG-RL) führt allenfalls zur Rechtswidrigkeit eines Bescheides, nicht aber zu dessen Nichtigkeit i.S.d. § 125 Abs. 1 AO.
2. Der Steuerpflichtige kann sich nicht auf den im Verfahren "Emmott" entwickelten Rechtsgrundsatz berufen, da der EuGH diesen auf Fallkonstellationen der dort gegebenen Art beschränkt wissen will.
3. Ein Wiedereinsetzungsgrund aufgrund "höherer Gewalt" kann auch vorliegen, wenn ein Verfahrensbeteiligter durch ein Verhalten der Behörde von einer fristgerechten Verfahrenshandlung abgehalten wird.
Normenkette
AO § 110 Abs. 3, § 355 Abs. 1, § 125 Abs. 1
Nachgehend
Tatbestand
Streitig ist die Änderung bestandskräftiger USt-Festsetzungen aufgrund der EuGH-Entscheidung zur Steuerfreiheit von Geldspielautomatenumsätzen.
Die Klägerin betrieb in den Streitjahren eine Spielhalle und erzielte dabei u.a. Umsätze aus dem Betrieb von Geldspielautomaten mit Gewinnmöglichkeit.
Der Beklagte erließ für die Streitjahre folgende USt-Bescheide (bei Erlass von mehreren Bescheiden für ein Streitjahr ist jeweils nur der zuletzt ergangene Bescheid aufgeführt), in denen die Einnahmen aus Geldspielgeräten mit Gewinnmöglichkeit der Umsatzsteuer unterworfen wurden:
Jahr |
Abgabe der USt-Erklärung |
Bescheid |
festgesetzte USt |
1993 |
Juni 1996 |
15.08.1996 |
48.405,00 DM |
1994 |
30.04.1996 |
18.11.1998, V.d.N. aufgehoben |
54.994,36 DM |
1995 |
18.11.1996 |
18.11.1998, V.d.N. aufgehoben |
59.302,90 DM |
1996 |
18.09.1997 |
18.11.1998, V.d.N. aufgehoben |
11.683,60 DM |
Die Festsetzungen wurden bestandskräftig.
Nach Ergehen des EuGH-Urteils vom 17. Februar 2005 (Rs. C-453/02 und Rs. C-462/02 – Linneweber und Akritidis –, BFH/NV Beilage 2005, 94) legte die Klägerin mit Schreiben vom 16. März 2005 gegen die USt-Festsetzungen 1982 bis 1997 Einspruch ein und beantragte, die Festsetzungen dahingehend zu ändern, dass Umsätze aus dem Betrieb von Glücksspielgeräten umsatzsteuerfrei zu belassen seien.
Zur Begründung führte sie aus, dass der Einspruch – unter Hinweis auf das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) vom 25. Juli 1991 Rs. C-208/90 – Emmott – (Slg. 1991, I-4269, HFR 1993, 137, UR 1993, 315) – zulässig sei, denn die Rechtsbehelfsfrist sei gehemmt, da Art. 13 Teil B Buchtst. f der 6. EG-RL nicht ordnungsgemäß in nationales Recht umgesetzt worden sei. Hilfsweise beantragte sie zudem mit Schreiben vom 10. Juni 2005 die Feststellung der Nichtigkeit sämtlicher seit 1979 erlassener USt-Bescheide und verwies zur weiteren Begründung auf eine gutachterliche Stellungnahme des Assessor jur. M.
Bezüglich der Jahre 1989 bis 1996 verwarf der Beklagte mit Einspruchsentscheidung vom 25. Mai 2007 den Einspruch unter Hinweis auf die BFH-Urteile vom 23. November 2006 (V R 51/05, BStBl II 2007, 433 und V R 67/05, BStBl II 2007, 436) als unzulässig.
Mit der vorliegenden Klage begehrt die Klägerin die Festsetzung der USt für die Jahre 1993 bis 1996 unter Beachtung der USt-Freiheit für Einnahmen aus Glücksspielen. Sie vertritt im Wesentlichen die Auffassung, dass die zu Unrecht erhobene Umsatzsteuer zurückzuerstatten sei. Es sei insoweit weder die Einspruchsfrist abgelaufen noch Festsetzungsverjährung eingetreten; diese Fristen hätten wegen der nichtordnungsgemäßen Umsetzung der maßgebenden Befreiungsvorschrift der 6. EG-RL in nationales Recht noch nicht einmal zu laufen begonnen. Es sei dem bei der Umsetzung säumigen Mitgliedsstaat verwehrt, sich insoweit auf den Ablauf nationaler Verfahrensfristen zu berufen. Die Fristen begännen erst mit der korrekten Umsetzung in nationales Recht. Eine solche Umsetzung sei bisher im Hinblick auf die Steuerbefreiung von Geldspielen mit Gewinnmöglichkeit nicht erfolgt. Durch die Nichtumsetzung der entsprechenden Befreiungsvorschrift in nationales Recht mache es der Gesetzgeber dem Steuerpflichtigen bereits tatsächlich und rechtlich unmöglich, zu erkennen, welche Rechte letzterer tatsächlich habe. Der Steuerpflichtige dürfe darauf vertrauen, dass nationale Gesetze höherrangigem Recht entsprächen und müssten keinen Anlass zu Zweifeln an dieser Rechtslage haben.
Zur weiteren Begründung verweist sie insbesondere auf die EuGH-Urteile in Sachen Emmott (vom 25. Juli 1991 Rs. C-208/90, a.a.O.), Fantask (vom 2. Januar 1997 Rs. C-188/95, Slg. 1997, I-6783) und Steenhorst-Neerings (vom 27. Oktober 1993 Rs. C-338/91, Slg. 1993, I-5475)
Hilfsweise begehrt sie die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 110 AO, denn sie sei fortlaufend und schuldlos daran gehindert worden, sich gegenüber den Finanzbehörden auf die Steuerfreiheit dieser Umsätze zu berufen.
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