Entscheidungsstichwort (Thema)
Anspruch auf Differenzkindergeld, anderer Elternteil im EU-Ausland
Leitsatz (redaktionell)
1) Der Anspruch auf Kindergeld steht einem im Inland wohnenden abhängig Beschäftigten auch für ein Kind zu, das beim anderen Elternteil in einem EU-Staat (hier Polen) wohnt. Der Anspruch besteht in diesem Fall jedoch nicht in vollem Umfang, wenn der ausländische Kindergeldanspruch des im EU-Staat arbeitslosen anderen Elternteils vorgeht.
2) Bei grenzüberschreitenden Sachverhalten bestimmen sich die Rechtsvorschriften für Familienleistungen ab 2010 nach Art. 11 ff., 91 der VO EG Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 97 der DVO (EG) Nr. 987/2009. Maßgeblich für die Frage, wodurch der Kindergeldanspruch ausgelöst wird, ist damit, aufgrund welchen Tatbestands die berechtigte Person den Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedsstaats nach Art. 11 bis 16 der VO EG Nr. 883/2004 unterstellt ist (gegen FG München, Urt. v. 7.8.2012 - 12 K 1488/11, EFG 2012, 2214).
3) Ein hiernach bestehender Anspruch auf Differenzkindergeld ist nicht gemäß Art. 68 Abs. 2 Satz 2 VO EG 883/2004 ausgeschlossen, wenn der deutsche Kindergeldanspruch durch eine Erwerbstätigkeit ausgelöst wird.
4) Auch die Aufnahme des Kindes in den EU-ausländischen Haushalt des anderen Elternteils führt nicht zum Anspruchsausschluss nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG, wenn der andere Elternteil kein inländischer Kindergeldberechtigter ist; ein Kindergeldanspruch des anderen Elternteils kann auch nicht über Art. 60 Abs. 1 Satz 2 VO EG Nr. 987/2009 fingiert werden (gegen FG Bremen, Urt. v. 10.11.2011 - 3 K 26/11 (1), EFG 2012, 143).
5) Einem Ausschluss des Anspruchs auf Differenzkindergeld aufgrund Gewährung dem deutschen Kindergeld vergleichbarer Leistungen im EU-Staat steht die Grundfreiheit der Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 45, 48 AEUV) entgegen.
Normenkette
EStG § 62 Abs. 1 Nr. 1, § 63 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, § 64 Abs. 2 S. 1, § 65 Abs. 1 S. 1 Nr. 2; VO EG Nr. 883/2004 Art. 11 Abs. 3 lit. a, Art. 67, 68 Abs. 1 lit. b) Ziff. i), Abs. 2 Sätze 1-2; VO EG Nr. 987/2009 Art. 60 Abs. 1 S. 2, Art. 97; AEUV Art. 45, 48; EStG § 32 Abs. 1 Nr. 1
Tatbestand
Streitig ist die Rechtmäßigkeit der Aufhebung der Kindergeldfestsetzung für den Zeitraum von Oktober 2010 bis Mai 2011.
Der Kläger ist polnischer und seit dem 19.04.2011 auch deutscher Staatsangehöriger. Er lebt in B und ist seit Januar 2006 bei der M GmbH & Co. KG in C angestellt. Seine am 22.02.1995 geborene Tochter A lebte bis Juni 2011, d.h. auch im streitigen Zeitraum, in Polen bei der Kindesmutter, von der der Kläger geschieden ist. Seit Juni 2011 lebt die Tochter A bei dem Kläger in B. Die Beklagte gewährte dem Kläger ab Juni 2011 („volles”) Kindergeld in Höhe von monatlich 184,– EUR.
Der Kläger bezog für seine Tochter bis September 2010 fortlaufend sog. Differenz-Kindergeld. Die Beklagte setzte insoweit unter anderem mit Bescheid vom 26.03.2010 Kindergeld für A in Höhe des sog. Differenz-Kindergeldes ab September 2009 gemäß § 165 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO) vorläufig fest. Sie führte weiter aus: Eine endgültige Entscheidung über die Höhe des Kindergeldes erfolge, wenn eine Bescheinigung über die Höhe der in Polen zustehenden Familienleistungen vorliege. Nach der Anlage zum Bescheid ergibt sich für den Zeitraum ab Januar 2010 ein monatlicher Kindergeldanspruch in Höhe von 162,41 EUR:
Kindergeld nach dem EStG |
184,00 EUR |
Ausländische Familienleistungen 91 polnische Zloty (PLN) Umrechnungskurs 4,21461 |
21,59 EUR |
|
162,41 EUR |
Die Beklagte hob die Festsetzung des Kindergeldes für die Tochter A mit Bescheid vom 21.10.2010 ab Oktober 2010 gemäß § 70 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) auf. Zur Begründung führte sie aus: Der Kläger habe grundsätzlich einen Anspruch auf deutsches Kindergeld für seine Tochter in Polen. Gleichzeitig stünden jedoch der Kindesmutter Familienleistungen in Polen zu. Diese Anspruchskonkurrenz sei anhand der Koordinierungsreglungen der Europäischen Union (EU) zu lösen. Zwar übe der Kläger in Deutschland eine Erwerbstätigkeit aus, jedoch würde auch die Kindesmutter in Polen eine Erwerbstätigkeit ausüben, so dass vorrangig ein Anspruch auf Familienleistungen in Polen bestehe (Art. 68 Abs. 1 Buchstabe b, Ziffer i der der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 – im Folgenden: VO (EG) Nr. 883/2004 –). Dem Grunde nach stünde dem Kläger, da die ausländischen Familienleistungen niedriger als das deutsche Kindergeld seien, auch Kindergeld in Deutschland in Höhe der Unterschiedsbeträge zu, jedoch sei nach den Durchführungsanweisungen zum über- und zwischenstaatlichen Recht an denjenigen Elternteil zu zahlen, der gemäß § 64 EStG der Kindergeldberechtigte sei. Ist danach ein Elternteil der Kindergeldberechtigte, der selbst nicht den deutschen Rechtsvorschriften unterliege, sei nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs – EuGH – (Urteil vom 10.10.1996 C-245/94, Rechtssache – Rs. – Hoever und Zachow, Slg 1996, I-4895; Urteil vom 07.06.2005...