BGH sieht die Sache nicht so einfach
Der BGH hat die Beschwerdeentscheidung aufgehoben und die Sache zurückverwiesen. Ohne Auflagen könne hier kein Räumungsschutz gewährt werden.
Hat der Schuldner eine unbewegliche Sache herauszugeben, zu überlassen oder zu räumen, so hat nach § 885 Abs. 1 S. 1 ZPO der Gerichtsvollzieher (GV) den Schuldner aus dem Besitz zu setzen und den Gläubiger in den Besitz einzuweisen. Auf Antrag des Schuldners kann das Vollstreckungsgericht nach § 765a Abs. 1 S. 1 ZPO eine Maßnahme der Zwangsvollstreckung ganz oder teilweise aufheben, untersagen oder einstweilen einstellen, wenn die Maßnahme unter voller Würdigung des Schutzbedürfnisses des Gläubigers wegen ganz besonderer Umstände eine Härte bedeutet, die mit den guten Sitten nicht vereinbar ist.
Suizidgefahr als Vollstreckungshindernis nach § 765a ZPO
Das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG verpflichtet die Vollstreckungsgerichte, bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 765a Abs. 1 S. 1 ZPO auch die Wertentscheidungen des Grundgesetzes und die dem Schuldner in der Zwangsvollstreckung gewährleisteten Grundrechte zu berücksichtigen. Eine unter Beachtung dieser Grundsätze vorgenommene Würdigung aller Umstände kann in besonders gelagerten Einzelfällen dazu führen, dass die Vollstreckung für einen längeren Zeitraum und – in absoluten Ausnahmefällen – auf unbestimmte Zeit einzustellen ist. Ergibt die erforderliche Abwägung, dass die der Zwangsvollstreckung entgegenstehenden, unmittelbar der Erhaltung von Leben und Gesundheit dienenden Interessen des Schuldners im konkreten Fall ersichtlich schwerer wiegen als die Belange, deren Wahrung die Vollstreckungsmaßnahme dienen soll, so kann der trotzdem erfolgende Eingriff das Prinzip der Verhältnismäßigkeit und das Grundrecht des Schuldners aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG verletzen (vgl. BVerfGE 52, 214; BVerfG v. 23.3.2023 – 2 BvR 1507/22; BGH NJW-RR 2023 1228).
Eine Gefährdung des unter dem Schutz des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG stehenden Rechts des Schuldners auf Leben und körperliche Unversehrtheit kann im Vollstreckungsschutzverfahren nicht nur bei der konkreten Gefahr eines Suizids gegeben sein. Die Vollstreckung kann auch aus anderen Gründen eine konkrete Gefahr für das Leben des Schuldners begründen oder wegen schwerwiegender gesundheitlicher Risiken eine mit den guten Sitten unvereinbare Härte i.S.v. § 765a Abs. 1 S. 1 ZPO darstellen. Einzubeziehen sind nicht nur die Gefahren für Leben und Gesundheit des Schuldners während des Räumungsvorgangs, sondern auch die Lebens- und Gesundheitsgefahren im Anschluss an die Zwangsräumung (vgl. BVerfG NJW 2022, 2537 [juris Rn 21]; WM 2022, 1540 [juris Rn 42 f.]; BGH v. 13.8.2009 – I ZB 11/09, NJW 2009, 3440 [juris Rn 12]; BGH NJW-RR 2023, 1228 [juris Rn 15]).
Vollstreckungsgerichte gewährleisten die staatliche Schutzpflicht
Das Vollstreckungsgericht hat in seiner Verfahrensgestaltung die erforderlichen Vorkehrungen zu treffen, damit Verfassungsverletzungen durch Zwangsvollstreckungsmaßnahmen ausgeschlossen werden und der sich aus dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit ergebenden Schutzpflicht staatlicher Organe Genüge getan wird. Es hat festzustellen, ob aufgrund einer Maßnahme der Zwangsvollstreckung ernsthaft mit einer Gefahr für Leib oder Leben des Schuldners zu rechnen ist; die damit einhergehenden Prognoseentscheidungen hat es mit Tatsachen zu untermauern.
Macht der Vollstreckungsschuldner für den Fall einer Zwangsräumung substantiiert ihm drohende schwerwiegende Gesundheitsgefahren geltend, haben sich die Tatsacheninstanzen – beim Fehlen eigener Sachkunde – zur Achtung verfassungsrechtlich verbürgter Rechtspositionen wie in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG regelmäßig mittels sachverständiger Hilfe ein genaues und nicht nur an der Oberfläche haftendes Bild davon zu verschaffen, welche gesundheitlichen Folgen im Einzelnen mit einem Umzug verbunden sind, insbesondere welchen Schweregrad zu erwartende Gesundheitsbeeinträchtigungen voraussichtlich erreichen werden und mit welcher Wahrscheinlichkeit dies eintreten kann.
Darlegungs- und Beweislast
Es gelten die allgemeinen Verfahrensmaximen des Zivilprozesses, insbesondere der Beibringungsgrundsatz, die Beweislast jeder Partei hinsichtlich der für sie günstigen Tatsachen und das Erfordernis einer den §§ 355 ff. ZPO entsprechenden Beweisaufnahme.
Alternativen zur Einstellung prüfen
Ist mit der Fortsetzung der Zwangsvollstreckung eine Lebens- oder Gesundheitsgefahr verbunden, bedeutet dies noch nicht, dass ohne Weiteres Vollstreckungsschutz nach § 765a Abs. 1 S. 1 ZPO gewährt werden muss. Vielmehr ist eine Einstellung der Zwangsvollstreckung nicht notwendig, wenn der Gefahr durch geeignete Maßnahmen begegnet werden kann. Dies setzt aber voraus, dass die Fachgerichte die Geeignetheit der Maßnahmen sorgfältig geprüft und insbesondere deren Vornahme sichergestellt haben.
Einstellung ist stets zu befristen
Erweist sich eine Einstellung der Zwangsvollstreckung als erforderlich, ist diese...