Leitsatz
1. Die aus einer Zwangsversteigerung resultierende ernsthafte Gefahr einer Selbsttötung des Schuldners oder eines nahen Angehörigen gemäß § 765a ZPO kann zu einer einstweiligen Einstellung des Verfahrens und damit im Beschwerdeverfahren zu der Aufhebung des Zuschlagsbeschlusses führen.
2. Die Schutzbedürftigkeit des Schuldners entfällt nicht deshalb, weil er seine psychische Erkrankung und eine daraus resultierende Selbstmordgefährdung hinnimmt. Eine solche Sichtweise wird dem in Art. 2 Abs. 2 GG enthaltenen Gebot zum Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit nicht gerecht.
BGH, 6.12.2012 – V ZB 80/12
1 I. Der Fall
Zuschlagbeschluss vs behauptete Suizidgefahr
Die Gläubigerin betreibt die Zwangsversteigerung des Grundstücks der Schuldner, das mit einem von den Schuldnern bewohnten Haus bebaut ist. Das Vollstreckungsgericht hat dem Meistbietenden unter Zurückweisung eines Antrags der Schuldnerin, das Verfahren wegen einer bei ihr bestehenden Suizidgefahr gemäß § 765a ZPO einstweilen einzustellen, den Zuschlag auf dessen Meistgebot erteilt. Die hiergegen gerichtete Beschwerde der Schuldnerin hat das LG nach Einholung eines psychiatrischen Fachgutachtens zurückgewiesen. Mit der zugelassenen Rechtsbeschwerde möchte die Schuldnerin weiterhin die vorläufige Einstellung des Zwangsversteigerungsverfahrens und die Versagung des Zuschlags erreichen.
LG: Schuldner muss selbst aktiv werden
Das LG war der Meinung, ein Schuldner könne keinen Vollstreckungsschutz beanspruchen, wenn er seine psychische Erkrankung und eine daraus resultierende Selbstmordgefährdung hinnehme, obwohl er es in der Hand habe, die Erkrankung behandeln zu lassen.
2 II. Die Entscheidung/Der Praxistipp
Suizidgefahr kann einstweilige Einstellung oder Aufhebung begründen
Im Ausgangspunkt zutreffend geht das LG davon aus, dass die aus einer Zwangsversteigerung resultierende ernsthafte Gefahr einer Selbsttötung des Schuldners oder eines nahen Angehörigen gemäß § 765a ZPO zu einer einstweiligen Einstellung des Verfahrens und damit im Beschwerdeverfahren zu der Aufhebung des Zuschlagsbeschlusses führen kann. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Gefahr der Selbsttötung sich erstmals nach dessen Erlass gezeigt hat oder ob sie schon zuvor latent vorhanden war und sich durch den Zuschlag im Rahmen eines dynamischen Geschehens weiter vertieft hat (BGH NJW-RR 2011, 423).
Tatsachen sind gutachterlich zu klären
Ferner hat es beachtet, dass Beweisangeboten des Schuldners zu seinem Vorbringen, ihm drohten durch die Fortsetzung des Vollstreckungsverfahrens schwerwiegende Gesundheitsbeeinträchtigungen, im Hinblick auf die Bedeutung des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG besonders sorgfältig nachzugehen ist, und deshalb ein fachärztliches Gutachten zu der von der Schuldnerin behaupteten Suizidgefahr eingeholt.
BGH geht von Suizidgefahr aus
Von Rechtsfehlern beeinflusst sind jedoch die Erwägungen, mit denen eine Schutzbedürftigkeit der Schuldnerin verneint wird. Dabei geht der Senat davon aus, dass das LG auf der Grundlage des eingeholten fachärztlichen Gutachtens ernsthaft mit einem Suizid der Schuldnerin für den Fall rechnet, dass der Zuschlagsbeschluss rechtskräftig wird und die Schuldner damit ihr Eigentum an dem von ihnen bewohnten Haus endgültig verlieren. Dass es der Einschätzung des Gutachters nicht folgt, die Schuldnerin müsse bei einem Verlust des Hauses ihren Beruf aufgeben, steht dem nicht entgegen. Denn dies betrifft ersichtlich nur die objektiven Folgen eines Eigentumsverlustes, nicht aber deren subjektive Wahrnehmung durch die Schuldnerin. Dem Hinweis des LG, die Schuldnerin überhöhe die Bedeutung des Eigenheims als Lebens- und Existenzgrundlage, lässt sich entnehmen, dass es die Einschätzung des Sachverständigen nicht in Frage stellen wollte, die Schuldnerin werde durch den Verlust des Hauses voraussichtlich in eine schwere emotionale Krise stürzen mit einem enormen Anstieg des Risikos der Ausführung eines Suizidversuchs bzw. Suizids. Andernfalls wäre der angefochtene Beschluss schon wegen rechtsfehlerhafter Beweiswürdigung aufzuheben. Das LG wäre dann nämlich ohne Darlegung eigener Sachkunde und ohne Beratung durch einen anderen Sachverständigen von den fachkundigen Feststellungen und Einschätzungen des von ihm gerade wegen fehlender medizinischer Sachkunde beauftragten Gutachters zu der psychischen Verfassung der Schuldnerin und der sich daraus ergebenden Suizidgefahr abgewichen (vgl. BGH NJW 1997, 1446; BGH NJW 1981, 2578).
BGH akzeptiert Erwägungen des LG nicht
Die Schutzbedürftigkeit der Schuldnerin entfällt aber nicht deshalb, weil sie "ihre psychische Erkrankung und eine daraus resultierende Selbstmordgefährdung hinnimmt". Eine solche Sichtweise wird dem in Art. 2 Abs. 2 GG enthaltenen Gebot zum Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit nicht gerecht. Die Unfähigkeit, aus eigener Kraft oder mit zumutbarer fremder Hilfe die Konfliktsituation situationsangemessen zu bewältigen, verdient auch dann Beachtung, wenn ihr kein Krankheitswert zukommt (BGH NJW-RR 2011, 423). Erst recht gilt die...