Die Prüfung, ob die Räumungsvollstreckung bei einem hochbetagten Schuldner wegen schwerwiegender gesundheitlicher Risiken eine mit den guten Sitten unvereinbare Härte i.S. des § 765a ZPO darstellt, ist nicht auf eine akute Lebensgefahr während des Räumungsvorgangs selbst zu beschränken; in die Beurteilung einzubeziehen sind auch schwerwiegende gesundheitliche Risiken, die aus einem Wechsel der gewohnten Umgebung resultieren.
BGH, 13.8.2009 – I ZB 11/09
Der Praxistipp
Räumungsvollstreckung ist existenzieller Eingriff
Die Räumungsvollstreckung ist mit erheblichen Eingriffen in die Lebenswirklichkeit des Schuldners verbunden, die unbestreitbar auch unmittelbare nachteilige körperliche Folgen haben kann. Die Schuldnerin hatte im vorliegenden Fall geltend gemacht, aufgrund der bestehenden Erkrankungen und ihres hohen Alters sei nach einer Zwangsräumung mit einer Beschleunigung des gesundheitlichen Verfalls und einer Verkürzung ihrer Lebenserwartung zu rechnen; zum Beweis hat sie sich auf die Einholung einer amtsärztlichen Stellungnahme berufen. Die Gefahr entsprechender gesundheitlicher Beeinträchtigungen nach Durchführung des Räumungsvorgangs ist nach der Entscheidung des BGH in die nach § 765a ZPO gebotene Abwägung einzubeziehen. Zu berücksichtigen ist zudem eine altersentsprechende und krankheitsbedingte deutlich verringerte Anpassungsfähigkeit an eine veränderte Umgebung, wenn eine gewohnte langjährige Umgebung im Falle einer Zwangsräumung verlorengeht (BVerfG NJW 1998, 295).
Mangelndes Bemühen um Wohnungswechsel nur konsequent
Der BGH hat klare Worte gefunden: Sollten für die Schuldnerin erhebliche Gesundheitsrisiken mit einem Wohnsitzwechsel wegen Verlustes der bekannten Umgebung verbunden sein, darf das Gericht bei der nach § 765a ZPO erforderlichen Interessenabwägung nicht zu Lasten der Schuldnerin berücksichtigen, dass diese nach dem Räumungsurteil keine Anstrengungen unternommen hat, eine andere Wohnung zu finden. Denn durch einen Umzug bestünde gerade die Gefahr, dass sich die mit dem Wohnungswechsel verbundenen Gesundheitsrisiken realisieren.
Anders wird dies aber zu beurteilen sein, wenn dem Schuldner Möglichkeiten offen standen, im gleichen Wohnumfeld eine neue Wohnung oder einen entsprechenden Altenheimplatz zu finden. Auf solche Optionen wird der Gläubiger schon im zeitlichen Zusammenhang mit der Titelerwirkung zu achten und diese zu dokumentieren haben.
Güterabwägung: Der Gläubiger muss seine Interessen einbringen
Für den BGH ist nun eine umfassende Güterabwägung erforderlich. Dabei ist dem Umstand ein nicht unerhebliches Gewicht beizumessen, ob der Schuldner eine laufende Nutzungsentschädigung in Höhe der zwischen den Parteien ursprünglich vereinbarten Miete zahlt, ob die Zahlungsrückstände sukzessive zurückgeführt werden, so dass ein vollständiger Ausgleich absehbar ist, und ob vom Gläubiger andere Umstände geltend gemacht werden können, aus denen sich ein vorrangiges Interesse an der Räumung ergeben könnte. Zu allen Punkten wird der Gläubiger vorzutragen haben. Im Einzelfall kann die Verpflichtung aus dem Eigentum dann auch einmal bedeuten, dass die Interessen des Gläubigers zurücktreten müssen. Hierauf wird der Rechtsanwalt des Gläubigers schon vor einem Räumungsprozess gegen einen älteren Menschen hinweisen müssen.