Leitsatz
Die vorgerichtliche Tätigkeit des Rechtsanwalts vor Erhebung einer Vollstreckungsabwehrklage löst die allgemeine Gebühr für das Betreiben des Geschäfts aus.
BGH, 13.1.2011 – IX ZR 110/10
1 I. Der Fall
Unberechtigte Inanspruchnahme aus Schuldanerkenntnis
In einem notariellen Vertrag gab der Kläger ein Schuldanerkenntnis über einen Darlehnsvertrag ab und unterwarf sich der sofortigen Zwangsvollstreckung aus der Urkunde. Im Rahmen eines weiteren notariellen Vertrages wurde die Forderung der Beklagten aus dem Schuldanerkenntnis verrechnet. Gleichwohl forderte die Beklagte den Kläger ein Jahr später anwaltlich auf, die aus dem Schuldanerkenntnis geschuldete Summe zurückzuzahlen. In dem Aufforderungsschreiben wurde ihm unter Androhung der Zwangsvollstreckung eine Zahlungsfrist gesetzt. Der Kläger ließ die Forderung durch seine Anwälte unter Hinweis auf die Verrechnung im notariellen Kaufvertrag zurückweisen. Zugleich forderten seine Anwälte die Beklagte zur Abgabe einer Vollstreckungsverzichtserklärung auf und kündigten für den Fall der Weigerung eine negative Feststellungsklage an. Die Beklagte gab daraufhin die gewünschte Verzichtserklärung ab und gestand zu, dass die Forderung erloschen sei.
Schuldneranwalt fordert Geschäftsgebühr
Der Kläger fordert Ersatz der zur Abwehr der Darlehensforderung durch die Einschaltung seiner Rechtsanwälte entstandenen Kosten in Höhe einer 1,5-fachen Geschäftsgebühr gemäß Nr. 2300 VV RVG nebst Auslagenpauschale und Umsatzsteuer. Das AG hat nur den Gebührentatbestand Nr. 3309 VV RVG (Verfahrensgebühr in der Zwangsvollstreckung) als erfüllt angesehen und dem Kläger ein hälftiges Mitverschulden an der Schadensentstehung zugerechnet, weil er trotz klarer Rechtslage sogleich Rechtsanwälte beauftragt habe. Das LG hat der Klage in vollem Umfang stattgegeben.
2 II. Die Entscheidung
Voraussetzungen für den Anfall der Geschäftsgebühr
Die Geschäftsgebühr gem. Nr. 2300 VV RVG entsteht gem. Vorbem. 2.3 Abs. 3 für das Betreiben des Geschäfts einschließlich der Information. Aus der systematischen Stellung im zweiten Teil des Vergütungsverzeichnisses ergibt sich, dass es sich um eine außergerichtliche Tätigkeit handeln muss. Der Begriff "Betreiben des Geschäfts" ist weit auszulegen. Er umfasst unter anderem die erste auftragsgemäße Unterhaltung mit dem Auftraggeber, das anschließende Anlegen einer Handakte, den Entwurf eines Schreibens oder Schriftsatzes, seine Übersendung an den Auftraggeber zur Prüfung, die Durchsicht der Stellungnahme des Auftraggebers, die Reinschrift des Schriftsatzes, seine Unterzeichnung, seine Absendung und Einreichung sowie eine Akteneinsicht (Hartmann, Kostengesetze, 40. Aufl., VV 2300 Rn 12).
Fall: Geschäftsgebühr angefallen
Die Voraussetzungen sind hier gegeben. Ob daneben eine Verfahrensgebühr nach Nr. 3309 VV RVG in Ansatz gebracht werden kann, braucht nicht entschieden zu werden. Sie wird vorliegend nicht verlangt. Zur Prüfung der Erfolgsaussichten einer Vollstreckungsabwehrklage (§ 767 ZPO), einer negativen Feststellungsklage (vgl. BGH MDR 1985, 138; BGH WM 2009, 918), einer Nichtigkeits- oder Restitutionsklage (§§ 579, 580 ZPO) oder einer auf § 826 BGB gestützten Schadensersatzklage wegen Titelerschleichung oder sonstigen Urteilsmissbrauchs (BGHZ 40, 130; BGHZ 50, 115; BGHZ 101, 380, 383 ff.; BGHZ 103, 44) muss der beauftragte Rechtsanwalt die materielle Rechtslage sowie die Beweislage in vollem Umfang durchdringen. Der Bearbeitungsaufwand unterscheidet sich dann nicht von demjenigen, den der Rechtsanwalt hätte aufbringen müssen, wenn er vor Einleitung eines streitigen Erkenntnisverfahrens mit der zunächst außergerichtlichen Bearbeitung des Falls betraut worden wäre. Gleicht sich der jeweilige Bearbeitungsaufwand, gibt es keine Rechtfertigung, die Geschäftsgebühr nur deshalb als nicht angefallen anzusehen, weil sie möglicherweise in Konkurrenz zu einer Gebühr aus Nr. 3309 VV RVG tritt.
Hinweis
Wenn der Rechtsanwalt den unbedingten Auftrag zur Erhebung einer Vollstreckungsabwehrklage gemäß § 767 ZPO erhalten hat, hat er bei Einreichung dieser Klage Anspruch auf eine Verfahrensgebühr gemäß Nr. 3100 VV RVG (Gerold/Schmidt/Müller-Rabe, RVG, VV 3309 Rn 334; Hartmann, Kostengesetze, VV 3309, 3310 Rn 41; Riedel/Sußbauer/Keller, RVG, 9. Aufl., VV Teil 3 Vorbem. 3 Rn 2). Folglich kann er diese Gebühr auch bei Erfolg außergerichtlicher Verhandlungen vor Klageeinreichung geltend machen.
Keine Sondersituation vor der Vollstreckungsgegenklage
Hat der Rechtsanwalt, der einen Leistungsanspruch verfolgen (oder abwehren) soll, noch keinen unbedingten Auftrag zur Klageerhebung (bzw. Verteidigung vor Gericht) erhalten, kann er erfolgreiche außergerichtliche Bemühungen gemäß Nr. 2300 VV RVG abrechnen. Es gibt keinen Grund, warum die Tätigkeit eines Rechtsanwalts im Vorfeld einer Vollstreckungsabwehrklage gebührenrechtlich anders behandelt werden sollte. Wenn diese Tätigkeit bei unbedingtem Klageauftrag der Tätigkeit im Vorfeld einer Leistungsklage oder sonstigen Klage außerhalb eines Zwangsvollstreckungsverfahrens gleich zu achte...