BGH sieht sittenwidrige Härte
Vor dem BGH sind die Ausgangsentscheidungen nur noch mit der Maßgabe angefochten worden, dass die Immobiliarzwangsvollstreckung nach § 765a ZPO hätte eingestellt werden müssen. Der Einstellungsantrag nach § 30a ZPO wurde nicht weiterverfolgt. Der BGH hat zunächst noch einmal die Grundsätze deutlich gemacht, nach denen gesundheitliche Beeinträchtigungen zu berücksichtigen sind.
Checkliste: Das sind die Grundsätze des BGH
Wendet der Schuldner ein, dass die Immobiliarzwangsvollstreckung für ihn mit einer gesundheitlichen Gefährdung einhergeht, muss sich der Gläubiger auf folgende Situation nach der Rechtsprechung des BGH einstellen:
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Die Gefährdung des unter dem Schutz des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG stehenden Lebens des Schuldners durch die Versteigerung oder die Fortsetzung des Verfahrens ist ein im Zuschlagsbeschwerdeverfahren nach § 100 Abs. 1, 3 i.V.m. § 83 Nr. 6 ZVG von Amts wegen zu berücksichtigender Umstand (BGH NJW 2006, 505; BGH WuM 2011, 475). |
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Das bedeutet zwar nicht, dass die Zwangsversteigerung ohne weiteres einstweilen einzustellen oder aufzuheben wäre, wenn die Fortführung des Verfahrens mit einer konkreten Gefahr für Leben und Gesundheit des Schuldners oder eines nahen Angehörigen verbunden ist (BGHZ 163, 66; BGH NJW-RR 2010, 1649). Vielmehr ist zur Wahrung der ebenfalls grundrechtlich geschützten Interessen des Vollstreckungsgläubigers und des Erstehers zu prüfen, ob der Lebensgefährdung auch anders als durch eine Einstellung oder Aufhebung der Zwangsversteigerung wirksam begegnet werden kann (BGH NJW-RR 2011, 421). |
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Das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit verpflichtet die Vollstreckungsgerichte aber dazu, das Verfahren so durchzuführen, dass den verfassungsrechtlichen Schutzpflichten Genüge getan wird. Kann das Leben des Schuldners durch eine Vollstreckungsmaßnahme in Gefahr geraten, weil dieser unfähig ist, aus eigener Kraft oder mit zumutbarer fremder Hilfe die Konfliktsituation situationsangemessen zu bewältigen, muss das Vollstreckungsgericht diesen Umstand beachten und dem bei der Durchführung des Verfahrens Rechnung tragen (BGH NJW-RR 2011, 421). |
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Das gilt nicht nur bei der Gefahr eines Suizids des Schuldners, sondern auch für den Fall, dass die Fortführung des Zwangsversteigerungsverfahrens den Erfolg der Behandlung einer lebensbedrohlichen Erkrankung des Schuldners gefährdet. |
Gericht muss Gutachten einholen
Der Schuldner hat geltend gemacht, der Erfolg seiner Krebsbehandlung werde durch die Fortführung des Zwangsversteigerungsverfahrens gefährdet. Dem muss das Vollstreckungsgericht grundsätzlich durch Einholung eines Gutachtens nachgehen, was im konkreten Fall des BGH erst in der Beschwerdeinstanz geschehen ist.
Hinweis
Die Bevollmächtigten des Gläubigers und ggf. des Zuschlagsbegünstigten sollten einerseits Gutachter ermitteln, die zu einer kurzfristigen Gutachtenerstattung in der Lage sind, andererseits auf eine schnelle Einholung eines Gutachtens dringen, um Verzögerungen zu vermeiden. Sicher nicht geeignet sind die behandelnden Ärzte des Schuldners zur Begutachtung. Das Ergebnis ist vorhersehbar. Es sollte eine neutrale Begutachtung erfolgen.
Das LG hat die Gefährdung des Behandlungserfolgs dem allgemeinen Lebensrisiko des Schuldners zugeordnet und die Auffassung vertreten, dieser Gesichtspunkt könne eine Einstellung oder Aufhebung der Zwangsvollstreckung von vornherein nicht rechtfertigen. Dem hat der BGH widersprochen und moniert, dass die Ansicht dem verfassungsrechtlichen Gebot des Lebensschutzes nicht gerecht werde. Eine lebensbedrohliche Erkrankung trifft den Schuldner zwar schicksalhaft. Dass ihre erfolgreiche Behandlung durch ein Zwangsversteigerungsverfahren gefährdet oder verhindert wird, lässt sich aber durch eine entsprechende Verfahrensgestaltung vermeiden. Das Vollstreckungsgericht hat die Maßnahmen zu ergreifen, die unter angemessener Berücksichtigung der Interessen des Gläubigers möglich sind, und beispielsweise das Zwangsversteigerungsverfahren vorübergehend einzustellen.
Der BGH hat angedeutet, dass die Ansicht der Gutachterin, eine Gefährdung liege vor, angreifbar sei, weil der Schuldner anderweitig Wohnung und berufliche Existenz habe.
Hinweis
Genau hier muss der Gläubiger ansetzen. Er sollte aufzeigen, dass der Schuldner anderweitig Unterkunft finden kann oder schon Unterkunft gefunden hat. Ggf. sollte zu diesem Zwecke mit dem örtlichen Sozialamt Kontakt aufgenommen werden. Darüber hinaus muss der Gläubiger fortlaufend den Stand der Behandlung und ihres Erfolges hinterfragen, um rechtzeitig eine Fortsetzung des Vollstreckungsverfahrens erreichen zu können.