BGH sieht umfassende Abwägung als erforderlich an
Ist mit einer Zwangsvollstreckungsmaßnahme eine konkrete Gefahr für Leben und Gesundheit des Schuldners verbunden, so kann dies im Hinblick auf das Grundrecht des Schuldners aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG die Untersagung oder einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung nach § 765a ZPO rechtfertigen. Dabei ist aber stets eine Abwägung der Interessen des Schuldners mit den ebenfalls grundrechtlich geschützten Vollstreckungsinteressen des Gläubigers vorzunehmen. So kommt auch auf Seiten des Gläubigers das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG zum Tragen, wenn die Einstellung der Zwangsvollstreckung sein Leben oder seine Gesundheit gefährdet. Ferner wird das Grundrecht des Gläubigers auf Schutz seines Eigentums (Art. 14 Abs. 1 GG) und auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) beeinträchtigt, wenn sein Räumungstitel nicht durchsetzbar ist.
Ausgleich der Interessen
Treffen grundrechtlich geschützte Positionen verschiedener Grundrechtsträger aufeinander, ist dieser Konflikt nach der Rechtsprechung des BVerfG nach dem Grundsatz praktischer Konkordanz zu lösen, der fordert, dass nicht eine der widerstreitenden Rechtspositionen bevorzugt und maximal behauptet wird, sondern alle einen möglichst schonenden Ausgleich erfahren (vgl. BVerfGE 28, 243; BVerfGE 93, 1, 21; Schuschke, NZM 2011, 304). Schon bisher wird diesem Grundsatz im Rahmen des § 765a ZPO im Falle einer konkreten Lebensgefahr für den Schuldner durch die sorgfältige Prüfung Rechnung getragen, ob dieser Gefahr nicht auf andere Weise als durch Einstellung der Zwangsvollstreckung wirksam begegnet werden kann (vgl. BGH WuM 2010, 250). Ist die Einstellung der für den Schuldner lebensbedrohlichen Räumungsvollstreckung mit einer Gefahr für Leben oder Gesundheit des Gläubigers verbunden, stellt sich diese Frage mit noch größerer Dringlichkeit.
Befristete Einstellung
In diesem Zusammenhang ist – soweit feststellbar – das Ausmaß der jeweiligen Gefährdung zu würdigen. So kann zu berücksichtigen sein, dass einerseits die mit der Einstellung der Zwangsvollstreckung verbundene Gefahr für Leben oder Gesundheit des Gläubigers noch nicht akut ist, sondern lediglich aufgrund eines längerfristigen Krankheitsverlaufs prognostiziert wird, andererseits aber die Räumung eine konkrete Lebensgefahr für den Schuldner begründet. In einer solchen Konstellation kommt eine befristete Einstellung der Zwangsvollstreckung unter Auflagen in Betracht, mit denen der Schuldner zu zumutbaren, dem Vollstreckungsgericht nachzuweisenden Maßnahmen angehalten wird, um durch eine Verbesserung seines Gesundheitszustands die mit der Räumung verbundenen Gefahren für Leben oder Gesundheit möglichst auszuschließen (BGH MDR 2016, 417).
Schuldner und Gläubiger sind gefährdet
Nach den rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen des LG besteht im Falle der Räumung eine konkrete Lebensgefahr für die Schuldnerin. Gleichermaßen nicht zu beanstanden sind die Feststellungen zum Gesundheitszustand der Gläubiger. Danach kann fortgesetzter Stress zu einer Verschlechterung des Krankheitsbilds der Gläubigerin mit einhergehender Suizidalität führen und beruht ihre gegenwärtige psychische Stabilität auf der Annahme, dass die Zwangsräumung doch noch durchgesetzt werden kann. Im Falle des Gläubigers kann sich danach bei dynamischem Verlauf seiner Anpassungsstörung längerfristig ein Gefährdungsmoment für Fehlhandlungen mit selbstschädigendem Charakter ergeben. Nicht zu beanstanden ist auch die Feststellung des LG, das mit einer Zwangsräumung verbundene Gefährdungspotential für die Schuldnerin sei deutlich höher zu bewerten als die bei einem weiteren Vollstreckungsstillstand für die Gläubiger bestehenden Gesundheitsgefahren.
Risiko der Allgemeinheit oder des Gläubigers
Das LG hat ausgeführt, es könne den Gläubigern nicht zugemutet werden, in den schicksalhaften Lebensverlauf der Schuldnerin einbezogen zu werden und sich hierfür aufopfern zu müssen. In einer solchen Konstellation könne dem Lebensschutz des Schuldners nicht mehr nach § 765a ZPO Rechnung getragen werden, weil dem Gläubiger eine an sich der Allgemeinheit obliegende Aufgabe jedenfalls dann nicht mehr übertragen werden dürfe, wenn hierbei seine Erkrankung oder sein Versterben in Kauf genommen werde. Vielmehr müsse die Schuldnerin ihr allgemeines Lebensrisiko, zu dem ein Wohnsitzwechsel gehöre, selbst tragen und die Zwangsräumung unter Heranziehung der gegebenen Hilfsmöglichkeiten (sozialpsychiatrischer Dienst, Inanspruchnahme ärztlicher Hilfe) hinnehmen.
BGH sieht Gläubiger in der Duldungspflicht
Die vorgenannten Feststellungen tragen das Abwägungsergebnis des LG nicht. Seine Annahme, das mit einer Zwangsräumung verbundene Gefährdungspotential für die Schuldnerin sei deutlich höher zu bewerten als die mit einem weiteren Vollstreckungsstillstand für die Gläubiger bestehenden Gesundheitsgefahren, gründet auf den Feststellungen des Sachverständigen. Im Rahmen der Abwägung kann der unterschiedliche Gefährdungsgrad nicht unbe...