Leitsatz
1. Begründet die Einstellung der für den Schuldner lebensbedrohlichen Räumungsvollstreckung eine Gefahr für Leben und Gesundheit des Gläubigers, so ist im Rahmen der Entscheidung nach § 765a ZPO das Ausmaß der jeweiligen Gefährdung zu würdigen.
2. Ist das mit einer Zwangsräumung verbundene Gefährdungspotential für den Schuldner deutlich höher zu bewerten als die mit einem weiteren Vollstreckungsstillstand für den Gläubiger bestehenden Gesundheitsgefahren, so kommt eine befristete Einstellung der Zwangsvollstreckung in Betracht, mit der dem Schuldner auferlegt wird, durch geeignete Maßnahmen an einer Verbesserung seines Gesundheitszustands zu arbeiten.
BGH, Beschl. v. 16.6.2016 – I ZB 109/15
1 I. Der Fall
Räumungstitel vorhanden
Die Schuldnerin wurde zur Herausgabe eines von ihr bewohnten Bungalows verurteilt. Die Gläubiger bewohnen das unmittelbar benachbarte Grundstück. Auf dem mit dem Bungalow bebauten Grundstück befinden sich ein Schuppen, eine Garage, Tiere und sämtliches Gartenzubehör der Gläubiger. Die Gläubiger betreiben gegen die Schuldnerin die Räumungsvollstreckung.
Schuldnerin beantragt Räumungsschutz
Die Schuldnerin beantragt Räumungsschutz und legt dazu die Stellungnahme eines Facharztes für Neurologie und Psychiatrie vor, der zufolge eine Zwangsräumung zu einer für die Schuldnerin lebensbedrohlichen Situation führen könne.
LG holt Gutachten ein
Das AG wies den Vollstreckungsschutzantrag zurück. Im Beschwerdeverfahren stellte das LG die Vollstreckung einstweilen ein und holte ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten ein.
"Krieg" um den Bungalow
Seit Mai 2013 wird der von der Schuldnerin bewohnte Bungalow auf Betreiben der Gläubiger nicht mehr mit Strom, Gas und Wasser versorgt. Im Sommer 2014 schlug der Gläubiger nahezu sämtliche Fenster des Bungalows ein. 2014 beschloss das LG die Einholung eines psychiatrischen Gutachtens zu der Frage, ob für die Gläubiger eine Gesundheits- oder Lebensgefahr besteht.
LG: keine sittenwidrige Härte
2015 wies das LG die Beschwerde der Schuldnerin zurück, weil die Voraussetzungen des § 765a ZPO nicht gegeben seien. Hiergegen richtet sich die vom LG zugelassene Rechtsbeschwerde der Schuldnerin.
2 II. Aus der Entscheidung
BGH sieht umfassende Abwägung als erforderlich an
Ist mit einer Zwangsvollstreckungsmaßnahme eine konkrete Gefahr für Leben und Gesundheit des Schuldners verbunden, so kann dies im Hinblick auf das Grundrecht des Schuldners aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG die Untersagung oder einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung nach § 765a ZPO rechtfertigen. Dabei ist aber stets eine Abwägung der Interessen des Schuldners mit den ebenfalls grundrechtlich geschützten Vollstreckungsinteressen des Gläubigers vorzunehmen. So kommt auch auf Seiten des Gläubigers das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG zum Tragen, wenn die Einstellung der Zwangsvollstreckung sein Leben oder seine Gesundheit gefährdet. Ferner wird das Grundrecht des Gläubigers auf Schutz seines Eigentums (Art. 14 Abs. 1 GG) und auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) beeinträchtigt, wenn sein Räumungstitel nicht durchsetzbar ist.
Ausgleich der Interessen
Treffen grundrechtlich geschützte Positionen verschiedener Grundrechtsträger aufeinander, ist dieser Konflikt nach der Rechtsprechung des BVerfG nach dem Grundsatz praktischer Konkordanz zu lösen, der fordert, dass nicht eine der widerstreitenden Rechtspositionen bevorzugt und maximal behauptet wird, sondern alle einen möglichst schonenden Ausgleich erfahren (vgl. BVerfGE 28, 243; BVerfGE 93, 1, 21; Schuschke, NZM 2011, 304). Schon bisher wird diesem Grundsatz im Rahmen des § 765a ZPO im Falle einer konkreten Lebensgefahr für den Schuldner durch die sorgfältige Prüfung Rechnung getragen, ob dieser Gefahr nicht auf andere Weise als durch Einstellung der Zwangsvollstreckung wirksam begegnet werden kann (vgl. BGH WuM 2010, 250). Ist die Einstellung der für den Schuldner lebensbedrohlichen Räumungsvollstreckung mit einer Gefahr für Leben oder Gesundheit des Gläubigers verbunden, stellt sich diese Frage mit noch größerer Dringlichkeit.
Befristete Einstellung
In diesem Zusammenhang ist – soweit feststellbar – das Ausmaß der jeweiligen Gefährdung zu würdigen. So kann zu berücksichtigen sein, dass einerseits die mit der Einstellung der Zwangsvollstreckung verbundene Gefahr für Leben oder Gesundheit des Gläubigers noch nicht akut ist, sondern lediglich aufgrund eines längerfristigen Krankheitsverlaufs prognostiziert wird, andererseits aber die Räumung eine konkrete Lebensgefahr für den Schuldner begründet. In einer solchen Konstellation kommt eine befristete Einstellung der Zwangsvollstreckung unter Auflagen in Betracht, mit denen der Schuldner zu zumutbaren, dem Vollstreckungsgericht nachzuweisenden Maßnahmen angehalten wird, um durch eine Verbesserung seines Gesundheitszustands die mit der Räumung verbundenen Gefahren für Leben oder Gesundheit möglichst auszuschließen (BGH MDR 2016, 417).
Schuldner und Gläubiger sind gefährdet
Nach den rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen des LG besteht im Falle ...