Leitsatz
1. Art. 34 Nr. 2 EuGVVO stellt nicht auf die formal ordnungsgemäße Zustellung des verfahrenseinleitenden Schriftstücks nach Art. 8 EuZVO 2000, sondern auf die tatsächliche Wahrung der Verteidigungsrechte ab. Diese gelten als gewahrt, wenn der Beklagte Kenntnis vom laufenden Gerichtsverfahren erlangt hat und deswegen seine Rechte geltend machen konnte (im Anschluss an EuGH, 28.4.2009, C-420/07, Slg. 2009, I-3571, und Senatsbeschluss vom 12.12.2007, XII ZB 240/05, FamRZ 2008, 586).
2. Im Hinblick auf den Zweck des Art. 34 Nr. 2 EuGVVO, das rechtliche Gehör des Beklagten zu gewährleisten, gilt als Einlassung im Sinne der Vorschrift jedes Verhandeln, aus dem sich ergibt, dass der Beklagte von dem gegen ihn eingeleiteten Verfahren Kenntnis erlangt und die Möglichkeit der Verteidigung gegen den Angriff des Klägers erhalten hat, es sei denn, sein Vorbringen beschränkt sich darauf, den Fortgang des Verfahrens zu rügen, weil das Gericht unzuständig sei oder weil die Zustellung nicht so erfolgt sei, dass er sich verteidigen könne. Ein Beklagter, der sich auf das Verfahren eingelassen hat, kann sich zumindest dann nicht mehr auf das Vollstreckungshindernis berufen, wenn er Gelegenheit zur Verteidigung erhalten hat (im Anschluss an EuGH, 21.4.1993, C-172/91, NJW 1993, 2091).
3. Grundsätzlich ist die Rüge eines Verstoßes gegen den verfahrensrechtlichen ordre public dann ausgeschlossen, wenn der Antragsgegner des Vollstreckbarkeitsverfahrens im Erkenntnisverfahren nicht alle nach dem Recht des Ursprungsstaates statthaften, zulässigen und zumutbaren Rechtsmittel ausgeschöpft hat (im Anschluss an den Senatsbeschluss, 26.8.2009, XII ZB 169/07, BGHZ 182, 188 = FamRZ 2009, 1816). Weil dadurch die Rechtsposition des Beklagten nicht unerheblich eingeschränkt wird, setzt dies voraus, dass der Beklagte nicht nur von der Existenz eines Urteils, sondern auch von dessen genauem Inhalt Kenntnis erlangt hat.
BGH, 3.8.2011 – XII ZB 187/10
1 Der Praxistipp
Praxisproblem: Grenzüberschreitende Forderungen
Der grenzüberschreitende Wirtschaftsverkehr nimmt zu. Europa kennt immer weniger Grenzen. Dies hat Folgen für die Rechtsprechung und die Rechtspraxis. Immer häufiger sind Gerichte mit Fragen der grenzüberschreitenden Vollstreckung befasst. Eines der wesentlichen Probleme ist dabei noch immer die große Sprachenvielfalt in der Europäischen Union. Muss der Gläubiger schon bei der Titulierung seiner Forderung alle Schriftstücke übersetzen, kann der Prozess schon alleine vor diesem Hintergrund für ihn unwirtschaftlich werden.
Privileg mit Haken
Die Europäische Zustellungsverordnung (EuZVO) sieht davon ab, dem Gläubiger alle zuzustellenden Schriftstücke in die Landessprache des Zustellungsstaates zu übersetzen. Hierauf kann verzichtet werden, wenn der Empfänger des Schriftstückes in der Lage ist, den Inhalt des Schriftstückes zu verstehen. Der Schuldner kann sich dem entziehen, indem er von seinem nach Art. 8 EuZVO eingeräumten Recht Gebrauch macht, die Annahme des Schriftstückes zu verweigern. Ob eine solche Annahmeverweigerung berechtigt ist, ist sowohl vom Prozessgericht als auch vom Vollstreckungsgericht im Vollstreckungsstaat zu prüfen. Weist das Prozessgericht, nicht aber das Vollstreckungsgericht die Annahmeverweigerung als unberechtigt zurück, so kann für den Gläubiger die paradoxe Situation entstehen, dass er zwar über einen Vollstreckungstitel verfügt, diesen aber im Vollstreckungsstaat tatsächlich nicht durchsetzen kann.
Grundsatz des sichersten Weges?
Vor diesem Hintergrund muss der Bevollmächtigte des Gläubigers mit ihm erörtern, ob eine Annahmeverweigerung riskiert werden soll oder ob die Bedeutung der Sache eine Übersetzung des zuzustellenden Schriftstückes in die Sprache des Empfangsstaates rechtfertigt.
Wer sich einlässt, versteht!
Der BGH hatte vorliegend den besonderen Fall, dass das Schriftstück in einer Sprache zugestellt wurde, in die der Adressat nicht verstand. Gleichwohl hat er sich auf das Verfahren eingelassen. In dieser Situation, so der BGH, kann sich der Schuldner im Vollstreckungsverfahren nicht mehr darauf berufen, dass ihm das verfahrenseinleitende Schriftstück nicht ordnungsgemäß zugestellt wurde. Dies entspricht der Regelung des § 189 ZPO, wonach die mangelbehaftete Zustellung dann ohne Konsequenz bleibt, wenn der Schuldner das Schriftstück zur Kenntnis genommen hat, insbesondere hierauf reagiert hat. Wer sich auf das Verfahren einlässt, muss in diesem Verfahren unmittelbar die unzureichende Zustellung rügen und – wenn dies vom Ausgangsgericht nicht beachtet wird – auch alle Rechtsmittel ausschöpfen, um seinem Einwand Geltung zu verschaffen.