Leitsatz
Arbeitslosengeld-II-Leistungen (ALG II), die der Schuldner erhält, sind bei einer erweiterten Pfändung (§ 850d ZPO) von Arbeitseinkommen unbeschadet des sich aus § 42 Abs. 4 S. 1 SGB II ergebenden Pfändungsschutzes im Sinne einer Minderung des Pfändungsfreibetrags gemäß § 850d Abs. 1 S. 2 ZPO zu berücksichtigen, sofern und soweit bei einer derartigen Berücksichtigung das sozialhilferechtliche Existenzminimum des Schuldners gesichert bleibt.
BGH, Beschl. v. 15.1.2020 – VII ZB 5/19
1 I. Der Fall
Unterhaltsvollstreckung
Der Gläubiger betreibt gegen den Schuldner die Zwangsvollstreckung aus einem Vollstreckungsbescheid wegen übergegangener Unterhaltsansprüche der Tochter des Schuldners. Der Gläubiger hat den Lohn gepfändet und zugleich beantragt, die Pfändungsfreigrenze gemäß § 850d ZPO auf monatlich 350 EUR festzusetzen.
Lohn und ALG II als Einkünfte
Der Schuldner hat neben ALG II ein Nettoarbeitseinkommen von monatlich 450 EUR; auf einen Grundfreibetrag von 170 EUR werden lediglich 280 EUR angerechnet. Der Gläubiger ist der Ansicht, mit diesen 280 EUR und dem ALG II sei der Gesamtbedarf des Schuldners vollständig gedeckt. Dem Schuldner stehe lediglich noch ein Mehrbedarf für seine Erwerbstätigkeit von 70 EUR zu. Daher ergebe sich eine Pfändungsfreigrenze von 350 EUR für das Arbeitseinkommen (280 EUR Einkommensanrechnung und 70 EUR Mehrbedarf). Damit seien vom Nettoarbeitseinkommen monatlich 100 EUR für die Unterhaltsansprüche der Tochter des Schuldners pfändbar.
AG setzt hohen Freibetrag fest
Das AG – Vollstreckungsgericht – hat den beantragten Pfändungs- und Überweisungsbeschluss (PfÜB) erlassen und den pfandfreien Betrag gemäß § 850d ZPO auf monatlich 850 EUR festgesetzt. Diesen Betrag hat es wie folgt bestimmt. Eine Anrechnung der dem Schuldner gewährten ALG-II-Leistungen auf den pfandfreien Betrag hat es abgelehnt. Das LG hat dies bestätigt. Hiergegen wendet sich der Gläubiger.
2 II. Die Entscheidung
Die Ausgangsentscheidungen halten einer rechtlichen Nachprüfung durch den BGH nicht stand.
Notwendiger Unterhalt = individuelles Sozialhilfeniveau
Zutreffend geht das LG davon aus, dass bei der nach § 850d ZPO erfolgten Pfändung von Arbeitseinkommen der unpfändbare notwendige Unterhalt des Schuldners im Sinne von § 850d Abs. 1 S. 2 ZPO grundsätzlich dem notwendigen Lebensunterhalt im Sinne des 3. und 11. Kapitels des SGB XII entspricht (BGH, 25.10.2012 – VII ZB 12/10 Rn 11 m.w.N., BGHZ 195, 224; BGH NJW-RR 2018, 1272).
Wie sich der Unterhalt zusammensetzt, ist unerheblich
Rechtlich fehlerhaft ist aber die Auffassung des Beschwerdegerichts, dass die dem Schuldner gewährten ALG-II-Leistungen bei der Bestimmung des pfändungsfreien Betrages nach § 850d Abs. 1 S. 2 ZPO keine Berücksichtigung finden.
Nach § 850d Abs. 1 S. 2 ZPO ist dem Schuldner so viel zu belassen, wie er für seinen notwendigen Unterhalt benötigt. Dementsprechend mindern andere Einnahmen und geldwerte Vorteile, soweit sie dem Schuldner tatsächlich zur Verfügung stehen, grundsätzlich den Freibetrag, der ihm aus seinem gepfändeten Arbeitseinkommen zu belassen ist. Anderes gilt, wenn ein besonderer Zweck der Einnahme dies ganz oder teilweise verbietet (BGH, 25.10.2012 – VII ZB 12/10 Rn 15, BGHZ 195, 224).
Pfändungsschutz bleibt unerheblich
Einer Minderung des Freibetrags durch ALG-II-Leistungen steht ein besonderer Zweck des ALG II nicht entgegen. Das ALG II dient der Sicherung des Existenzminimums und soll deshalb bei den leistungsberechtigten Personen verbleiben (BT-Drucks. 18/8041, S. 56). Dieser Zweck wird durch eine Minderung des Freibetrags nach § 850d Abs. 1 S. 2 ZPO infolge des Bezugs von ALG-II-Leistungen nicht beeinträchtigt. Vielmehr verbleiben dem Schuldner ungeschmälert die ihm gewährten Leistungen.
Aus den Zusammenrechnungsregeln ergibt sich nichts anderes
Anderes folgt gesetzessystematisch nicht aus § 850e Nr. 2a ZPO. Nach § 850e Nr. 2a ZPO sind mit Arbeitseinkommen auf Antrag auch Ansprüche auf laufende Geldleistungen nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) zusammenzurechnen, soweit diese der Pfändung unterworfen sind. Da Ansprüche auf ALG-II-Leistungen nach § 42 Abs. 4 S.1 SGB II unpfändbar sind, wird teilweise vertreten, § 850e Nr. 2a ZPO stehe einer Minderung des Freibetrags nach § 850d Abs. 1 S. 2 ZPO entgegen (vgl. Stein/Jonas/Würdinger, ZPO, 23. Aufl., § 850d Rn 29; Zöller/Herget, ZPO, 33. Aufl., § 850d Rn 10; a.A. Musielak/Voit/Becker, ZPO, 16. Aufl., § 850d Rn 11). Diese Auffassung ist unzutreffend. § 850e Nr. 2a ZPO ist weder unmittelbar noch seinem Sinn und Zweck nach im Rahmen von § 850d Abs. 1 S. 2 ZPO anwendbar.
Keine Zusammenrechnung
Eine unmittelbare Anwendung von § 850e Nr. 2a ZPO scheidet aus, da es bei der Berechnung des nicht pfändbaren Betrages nach § 850d Abs. 1 S. 2 ZPO nicht um eine auf Antrag erfolgende Zusammenrechnung von Arbeitseinkommen mit Ansprüchen auf laufende Geldleistungen nach dem SGB geht. Im Rahmen von § 850d Abs. 1 S. 2 ZPO ist vielmehr die Frage zu klären, ob ALG-II-Leistungen den Pfändungsfreibetrag mindern.
Keine analoge Anwendung
Eine analoge Anwendung von § ...